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Archiv 2011: aus "Gelesen"
Zwischen Sittengemälde, Politthriller und Tagebuch
Eine junge Liebe in Zeiten der Diktatur – Die Erinnerungen Lore Pfeiffer-Wentzels Von Simon Hopf
Seine elegante Erscheinung machte auf Lore bleibenden Eindruck: Mantel, Hut – und Sonnenbrille, obwohl es schon dunkel war. Ein wenig Exaltiertheit besaß jener gediegene Herr offenbar auch, der da in allerletzer Sekunde noch zugestiegen war und in diesem überfüllten Zug neben ihr ein Plätzchen auf der Schaffnerbank ergatterte. „Wir rücken zusammen“, hatte ihr Vater dem Fremden zugerufen, der sich dafür während der nächtlichen Fahrt in Richtung Süddeutschland als kurzweiliger Unterhalter revanchierte. Eine Konversation mit Folgen. Denn das „gnädige Fräulein“, das Carl-Friedrich Wentzel so wunderbar formvollendet in seinen Bann schlug, sollte schon wenige Monate später seine Frau werden.
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iese schicksalhafte Zufallsbegegnung machte aus Lore Petzhold, der jungen, unbeschwerten Arzttochter aus Halle an der Saale, die Gattin eines Industriellensohns, dessen Familie zu den größten (Agrar-)Unternehmern des damaligen Deutschen Reiches zählte – und nicht zuletzt deshalb unter argwöhnischer Beobachtung des NS-Regimes und seiner Paladine stand.
Das Leben der heute 90-jährigen Lore Pfeiffer-Wentzel bietet also genau den Stoff, aus dem heraus sich Geschichten entwickeln lassen. Geschichten, die aus privater Perspektive erzählt bezeichnende Schlaglichter auf die allgemeine gesellschaftliche und politische Situation vergangener Epochen werfen. Geschichten, die jeder, der auf seine eigene Herkunft zurückblickt, in sich trägt. Freilich birgt dieses Sich-Erinnern auch die Gefahr des Banalen …
Das Leben der heute 90-jährigen Lore Pfeiffer-Wentzel bietet also genau den Stoff, aus dem heraus sich Geschichten entwickeln lassen. Geschichten, die aus privater Perspektive erzählt bezeichnende Schlaglichter auf die allgemeine gesellschaftliche und politische Situation vergangener Epochen werfen. Geschichten, die jeder, der auf seine eigene Herkunft zurückblickt, in sich trägt. Freilich birgt dieses Sich-Erinnern auch die Gefahr des Banalen …
Zeugin von Ereignissen mit historischen Dimensionen
Doch ist das, was Lore Pfeiffer-Wentzel aus ihrem Leben berichtet, mehr als ein wehmütiges Besinnen auf eine Jugend in wohlbehüteten Verhältnissen und auf ein Erwachsenwerden als Gutsbesitzerin in Kriegszeiten. Durch ihre Heirat wird sie plötzlich zur Schwiegertochter eines Verfehmten, den die Machthaber im Nachgang zum 20. Juli 1944 wegen „Landesverrats“ zum Tode verurteilen. Damit wird die Schwiegertochter zur Zeugin von Ereignissen mit historischer Dimension.
Doch ist diese Hybris am Ende eines verlorenen Krieges gleich in mehrfacher Hinsicht eine Zäsur: Persönlichkeiten wie Carl Wentzel, der als „Zuckerkönig“ ein familieneigenes, jahrhunderte altes Firmenimperium lenkte, waren in ihrer typischen Ausprägung ebenso Verkörperungen dieses untergehenden Deutschlands wie die von Hausdienern und Mamsells bevölkerte Welt, in der sie sich eingerichtet hatten – eine Welt bürgerlicher Repräsentation, die uns Heutigen aus Romanen bekannter Autoren noch faszinierend entgegenleuchtet.
Halle und Berlin, Schochwitz, Teutschenthal und Boltzenhöhe sind Stationen ihres Schicksals
Das Diktum von den „zwei Leben“, die manche Menschen führen, trifft auf Lore Pfeiffer-Wentzel in jeder Hinsicht zu. Die Stunde Null markiert auch für sie einen Neubeginn, der zunächst noch unter den Vorzeichen ihrer Verbindung zu Carl-Friedrich Wentzel steht. Als dieser sich von ihr abwendet, folgt 1950 die Scheidung. Jahre später heiratet Lore erneut.
Neun Lebensjahrzehnte alt: Lore Pfeiffer-Wentzel heute |
Seit nunmehr 60 Jahren ein Leben in Düsseldorf
An der Seite ihres zweiten Mannes Rolf Pfeiffer, der in Düsseldorf ein eingeführtes Herrenausstattergeschäft betreibt, ist sie Mitakteurin des legendären Wirtschaftswunders. Es ist eine kluge Entscheidung gewesen, dass Lore Pfeiffer-Wentzel ihre Autobiographie „Ein recht mutiges Herz“, weitgehend auf die ersten 30 Jahre ihres Lebens beschränkt hat: Dadurch gewinnt das Buch eine Spannung, die mit dem – zumindest erahnbaren – stetigen Aufwärts seit den 1950er Jahren wohl abgebrochen wäre. Ein Gewinn ist die Lektüre dieses Buches, das zwischen Sittengemälde, Politthriller und Tagebuch changiert, in jedem Fall. Dies umso mehr, da dem Text zahlreiche Fotos und Reproduktionen zeitgenössischer Dokumente und Schriftwechsel beigefügt wurden.
Lore Pfeiffer-Wentzel, „Ein recht mutiges Herz“, Mitteldeutscher Verlag,
ISBN 978-3-89812-737-0
Preis € 24,90