ARCHIV 2013
Geschichte einmal anders
Von Bürgern für Bürger
Dass ein ausgeprägter Bürgersinn vieles zu leisten vermag, ist hinlänglich belegt. Ein Blick in die Historie deutscher Städte, auch der rheinischen, legt davon beredt Zeugnis ab. In der besten Tradition bürgerlichen Engagements steht eine Publikation mit dem Titel „150 Bürger”, die von der Bürgergesellschaft zu Neuss e.V., 1861 als „Constantia“ gegründet, anlässlich ihres 150-jährigen Bestehens veröffentlicht wurde.
Buchcover 150 Bürger Den Umschlag ziert ein Bild von Christoph Rehlinghaus, Neusser Ansicht vom Romaneum aus; Öl, 2011 |
DER BÜRGER im klassischen französischen Sinne des Citoyens ist, wie es der Neusser Bürgermeister Herbert Napp im Grußwort der Buches herausstellt, der eigentliche Träger der städtischen Gesellschaft. In diesem Kontext ist die opulente 660 Seiten starke Jubiläumsschrift zu sehen. Mit ihr wolle die Gesellschaft “... an Persönlichkeiten und an die mit ihnen verbundenen Ereignisse der Stadt Neuss erinnern”, wie Johann- Andreas Werhahn, Präsident der Bürgergesellschaft, betont.
Das Buch „150 Bürger“ ist weit mehr als ein mit viel Lokalkolorit garnierter Vereinsrückblick über bürgerlichen Frohsinn und gesellschaftliches Auf und Ab. Die Gesellschaft „Bürger“ startete bereits vor Jahren das Unterfangen, ihre Chronik anhand ausgewählter Biografien ihrer Mitglieder zu erzählen. Der lange zeitliche Vorlauf erwies sich doch als zu kurz gedacht. Erst nach dem Jubiläumsjahr konnte die Schrift erscheinen. Doch dafür ist der Bürgergesellschaft ein einmaliges Werk gelungen, das konzeptionell wie inhaltlich Vergleichbares sucht. In 150, zum Teil sehr persönlichen, Portraits sind nun 150 Jahre Geschichte des Bürgervereins und damit - weil untrennbar miteinander verbunden - Stadthistorie gespiegelt. Als biografisches Geschichtsbuch ist es zudem versehen mit einem ganz besonderen Zusatz: fast nur geschrieben von „Bürgern“ ist es eine Publikation, die in die heutige Zeit passt.
Die Neusser Bürgergesellschaft bei einem Festmahl 1910. In necessariis unitas, In dubiis libertas, In omnibus caritas (Im Notwendigen Einigkeit, Im Zweifel Freiheit, In Allem Nächstenliebe) Gesellschaftsleitbild von 1861 |
Seinen besonderen Reiz bezieht das Werk dabei aus zwei Quellen. Zum einen aus seinen vielfältigen Lebensläufen, denn die Autoren lieferten dem Herausgeber, dem Neusser Stadtarchivar Jens Metzdorf, lebendige Persönlichkeitsbilder. Zum anderen aus vier chronologisch aufgeführten, stadthistorischen Skizzen, die redaktionell geschickt eingebunden worden sind und als Hintergrundtexte einen Überblick über markante Epochen der jüngeren Neusser Stadtentwicklung ab 1861 geben. Dies ist vor allem für jene Leser von Bedeutung, die mit den Sonderheiten der rheinischen Historie weniger vertraut sind. Bildreich und ansprechend gestaltet, vom übrigen Text abgesetzt, liefern gerade diese mehrseitigen Geschichtsskizzen jenen erforderlichen Einblick in das zurückliegende Stadtgeschehen, der “...in den biografischen Beiträgen nicht geleistet werden kann”, so Herausgeber Metzdorf.
Ansicht der Stadt Neuss Mitte des 19. Jahrhunderts. Rauchende Schornsteine und ein Raddampfer auf dem Erftkanal künden von der zunehmenden Industrialisierung. Stahlstich 1859; Foto: Stadtarchiv Neuss |
Das Autorenteam hat facettenreiche Viten verfasst, die inhaltlich über die stellvertretend ausgewählten, ausführlich behandelten Persönlichkeiten hinausweisen. Erzählt werden typische Bilder der Generationen, die dadurch, dass sie aufgeschrieben wurden, eine besondere Würdigung erfahren.
Der Kaufmann Heinrich Frings (1851-1943) , Foto Stadtarchiv Neuss "`Heilige Familie´ ist in Neuss eine feststehende Redewendung, die zum Ausdruck bringt, dass sich eine alteingesessene Familie nicht nur durch ihr Vermögen, sondern auch durch ihr kommunalpolitisches und soziales Engagement allgemeine Anerkennung in der Gesellschaft erworben hat.” (Autor Helmut Gilliam, 150 Bürger, S. 117) Zu diesen gehört die Familie Frings. Ihre namhaften Vertreter waren der Neusser Bürgermeister und Abgeordnete der Frankfurter Nationalversammlung, Michael Frings (1795-1872), sein zweiter Sohn, der Fabrikant Heinrich Frings (1851-1943) und dessen Sohn Josef (1887-1978), der spätere Kölner Erzbischof und Kardinal |
Das Spektrum der Professionen ist breit: Handwerker, Kaufleute, Landwirte, Industrielle, Geistliche. Beim Studium der Lebensläufe wird schnell klar: Es ist die soziale und kulturelle Verantwortung, die von diesen Bürgern - oft in einflußreichen Positionen - gelebt wurde und die damit über ihr privates Umfeld hinaus auch die Stadt geprägt haben. Und jeder Bürger tat es auf seine Art. Das Buch erzählt von Veränderern und Aufbauern in Zeiten größter sozialer, politischer und wirtschaftlicher Umbrüche. Es hält dem Leser leise den Spiegel vor, indem es zwischen den Zeilen persönliche Moral und Anstand beschreibt und den Begriff Disziplin ganz selbstverständlich nutzt. Sicher, es ist das Bildungsbürgertum, das hier formuliert wird und wer die Parallele zur heutigen Zeit sucht, der findet diese beispielsweise in Gemeinschaften wie in den für die Quirinusstadt typischen Schützenvereinen, die damals wie heute das sind, was man Netzwerke nennt - rheinische Lebensart inbegriffen. Doch vom Duktus einer überzogenen Selbstdarstellung ist man weit entfernt und hat es auch nicht nötig. Das Leben selbst hat die beispielhaften Viten geschrieben.
Die Bandbreite der Persönlichkeiten ist beträchtlich. Sie reicht von der Odyssee der von den Nationalsozialisten verfolgten Eheleute Heinrich und Annemarie Brand (der Politiker Heinrich Brand galt als „politisch unzuverlässig“ und wurde nach dem Zweiten Weltkrieg Pressesprecher der Regierung Adenauer), über den Weinhändler Franz Josten, den Landwirt Heinrich Hoerdemann, den Kaufmann Johann Heinemann, den Notar Georg Kolkmann, den Politiker Heinz Günther Hüsch, den Journalisten und langjährigen Chefredakteur der Neuß-Grevenbroicher Zeitung Alfons Kranz, den Umweltschützer Rainer Lechner, den Maler und Kunstprofessor Josef Urbach (mehr), den Oberpfarrer Hans Dieter Schelauske, den Bundespolitiker Hermann Gröhe, dem jüngsten Mitglied Anna Diana Mehdorn, und, und, und ... bis zu den Kaufmanns- und Industriellenfamilien Kallen, Thywissen, Sels und Werhahn.
„150 Bürger“ gibt vielfältige Einblicke in das Leben und Wirken von Bürgerinnen und Bürgern dieser ur- rheinischen und historisch schwergewichtigen Stadt Neuss, die verbindet, dass "... sie zwischen 1861 und 2011 Mitglieder der traditionsreichen `Bürgergesellschaft´ gewesen sind."
► Der 1861 als “Constantia” von 60 Neusser Bürgern gegründete und später in “Bürgergesellschaft zu Neuss” umbenannte Verein versteht sich als katholische Gesellschaft zur Vertretung von Bürgerinteressen und Ort geselliger Veranstaltungen. Derartige Sozietäten, die Mitte des 19. Jahrhunderts in vielen Städten gegründet wurden, waren Ausdruck der beginnenden bürgerlichen Emanzipation vom feudal-autokratischen Herrschaftswesen, auch Ausdruck des Willens zur kommunalen Mitgestaltung und zur Wahrung kultureller, das heißt religiöser, Eigenständigkeit. Im Konflikt des preußischen Staats mit dem politischen Katholizismus nahmen Gesinnungsvereine wie die „Constantia“ örtlich einflussreiche Rollen ein, bis hin zur Gründung eigener Sprachrohre in Form von Tageszeitungen. Bürgerliche Kreise waren es, die landauf und landab ferner Kunstvereine, Museen, Musik-, Gesangs- und Theatervereine und andere städtische Kulturinstitutionen gründeten. Daneben aber auch karitative Hilfs- und Fördervereine für breite, durch die rapiden sozio- ökonomischen Veränderungen verarmten Bevölkerungsschichten.
Claus P. Woitschützke
150 Bürger
Die Bürgergesellschaft zu Neuss 1861 – 2011
Herausgeber Jens Metzdorf
ISBN 978-3-00-039656-4
Preis € 29,90