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Marseille 1940 - Hafen der Hoffnung
Am 22. Juni 1940 endete der sogenannte Westfeldzug der deutschen Wehrmacht, denn Frankreich kapitulierte. Marseille, der einzige große Hafen im unbesetzten Südfrankreich, wurde zu einem Sammelpunkt für Flüchtlinge.
Gruppenportrait mit Flüchtlingen, Ende März 1941 an Bord des Frachters Capitaine Paul-Lemerle. Rund 350 Personen wurden mit Hilfe des amerikanischen Emergency Rescue Committee (ERC) von Marseille nach Martinique evakuiert. Bildquelle © United States Holocaust Memorial Museum, mit Genehmigung von Dyno Lowenstein. Provenienz: Dyno Lowenstein |
Tausende europäische Staatsbürger waren seit 1933 nach Frankreich emigriert und hatten dort Schutz vor Verfolgung gesucht. Doch nun war ihr Exilstatus nichts mehr wert. Bei den Geheimdiensten der Diktatoren Hitler und Mussolini standen sie auf den Verhaftungs- und Deportationslisten.
Max Ernst, die Malerin Jacqueline Lamba Breton, der Bildhauer Jacques Lipchitz, der Surrealist André Breton und Varian Fry. Varian Fry-Papiere, RBML Bildquelle © Columbia University Libraries
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Für die Verfolgten begann eine zweite Flucht – nach Süden an die Côte d´Azur und an die spanische Grenze. Marseille, Toulon, Sanary-sur-mer, Nizza, Banyuls, Cerbère boten, so ihre Hoffnung, die Chance, der Gestapo, der französischen Polizei und später der paramilitärischen Milice française zu entkommen.
Bei den Exilanten handelte es sich um Juden, Wissenschaftler, politische Aktivisten, Intellektuelle, Schriftsteller und Künstler der europäischen Avantgarde. Unter ihnen weltbekannte Persönlichkeiten wie Hannah Arendt (mehr), Lion Feuchtwanger, Franz Werfel und Alma Mahler-Werfel, Anna Seghers, Heinrich Mann, Walter Benjamin, Marc Chagall, André Breton, Marcel Duchamp, die rheinischen Künstler Max Ernst (mehr) und Anton Räderscheidt, beide galten als progressiv und „entartet“, sowie unzählige andere.
Das Französische Staatsoberhaupt Le Maréchal de France Philippe Pétain bei einer Parade am 14. Juli 1940. Foto © Agentur Trampus in: Broschüre Philippe Pétain. Imprimerie A. Coueslant (personnel intéresse) Cahors. Archiv und Reproduktion © rheinische ART 2024 |
Alle versuchten, über das von Maréchal Philippe Pétain regierte Vichy-Frankreich, in die Freiheit zu entkommen. Die meisten wollten auf dem Landweg nach Portugal oder über Marseille mit Schiffen nach Übersee gelangen. Zahlreiche Flüchtlinge wie auch gefangene britische Militärangehörige waren bereits als unerwünschte Ausländer (Étrangers indésirables) in Internierungslagern in der „freien Zone“ festgesetzt worden.
Aus der Parole „Liberté, Égalite, Fraternité“ wurde im Vichy-Regime „Travail, Famille, Patrie“ – aber die Heimat gab es nicht für die Verfolgten! Bildquelle Broschüre Philippe Pétain. Imprimerie A. Coueslant (personnel intéresse) Cahors. Archiv und Reproduktion © rheinische ART 2024
Varian Fry (1907–1967) Journalist und Fluchthelfer. Foto © Library of Congress. Fotoquelle © Wikipedia gemeinfrei
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So etwa auch Max Ernst und Anton Räderscheidt, der im Deportationslager für Juden „Les Milles“ bei Aix-en-Provence interniert war und dort unter anderen auf den Künstler Hans Arp traf (siehe Verweis unten). Marseille wurde jedoch für viele zu einer Falle, zum Ende ihres Fluchtweges, zum Beginn einer Auslieferung an die Gestapo und damit zu den Konzentrationslagern.
Die bewegenden Einzelschicksale, das Chaos im Lande 1940 (Le Désastre) und die lebensgefährlichen Fluchten, die fast unglaublichen Aktionen gegen den nazifreundlichen französischen Polizeiapparat und die Vichy-Bürokratie beschreibt eine interessante Neuerscheinung von Uwe Wittstock mit dem Titel „Marseille 1940 – Die große Flucht der Literatur“.
Die zentrale Rolle in dem Buch spielt der US-Journalist Varian Fry, der von der New Yorker Hilfsorganisation Emergency Rescue Committee (ERC) nach Marseille geschickt wurde, um den verzweifelten Menschen bei der Flucht aus Europa zu helfen.
Fry, 32 Jahre alt, wurde zu einem Mann der Hoffnung! Er und seine Fluchtagentur besorgten illegal jene Dokumente, mit denen Leben gerettet werden konnten: gefälschte Ausweispapiere, Passierscheine, Geleitbriefe (sauf-conduit), Bürgschaften (affidavits) und Visa. Mit tatkräftigen und selbstlosen Helfern, vielfach einfache „Citoyens“, ließ er Fluchtwege über die Pyrenäen erkunden und im Transit Flüchtlingsgruppen durch Spanien nach Portugal schleusen.
Fry und seine Leute retteten im Laufe von rund dreizehn Monaten mehr als 2.000 Menschen. Zu seinem Hilfsteam gehörten zwei Amerikanerinnen: die reiche Erbin Mary Jayne Gold und die Bildhauerin Miriam Davenport.
Buchcover Bildquelle © C.H.Beck Verlag 2024
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Das Buch bietet eine überaus lesenswerte Zusammenschau jener Zeit, in der Frankreich seine traditionellen Ideale verlor und Europa seine Dichter und Denker. Chronologisch aufgebaut, kompakt und spannend erzählt.
Der Autor richtet den Fokus auf die dramatische Zeitspanne von Mai 1940 bis August 1941 und auf das Schicksal insbesondere der Literaten. Wie finster die Zeiten damals an der sonst so mondänen, strahlenden Côte d`Azur oder in der Provence waren, wie gnadenlos die Polizeimaschinerie arbeitete und dennoch Mitmenschlichkeit des Bürgertums oft Leben rettete, welchen Risiken sich Varian Fry und seine Helfer aussetzten, ist ein fast kriminalistisch recherchiertes und dokumentiertes Lehrstück über Mut, Zivilcourage und Uneigennützigkeit.
Das Hôtel Splendide am Boulevard d´Athènes war ein Luxushotel, das während des Zweiten Weltkriegs eine wichtige Rolle in Marseille spielte. In dem Hotel residierte Varian Fry anfänglich mit dem ERC-Büro. Für die Emigranten war es eine lebensrettende Anlaufstelle. Bildquelle © Tourisme-Marseille.com |
Zu Recht taucht die Frage auf, warum eine Person wie Varian Fry kaum allgemein bekannt ist und auch keine Biografie in Deutsch existiert. Uwe Wittstock zeichnet ein großes, bedrückendes Flüchtlingsdrama nach, empathisch und gelegentlich detailverliebt, aber schnörkellos und ohne Sentimentalität. Alles beruht auf Tatsachen, der Autor wertete Tagebücher, Autobiografien, Notizen, Korrespondenzen, Nachlässe, Interviews und Berichte aus.
Es ist ferner ein Lehrstück über das Versagen von Politik und Politikern zur Zeit, als Europa brannte. Über das faschistische und mit dem NS-System sympathisierende Vichy-Frankreich und über ein US-amerikanisches Außenministerium, dass die Rettungsversuche blockierte. Allein das alles lohnt schon das Lesen! Im Nachwort merkt der Autor an, wie überraschend es sei, das Varian Fry und seine Helfer in Deutschland wenig Anerkennung gefunden hätten. Obwohl „die deutsche Kulturgeschichte ihnen doch einiges zu verdanken“ hatte.
cpw
► Die US-Botschaft in Vichy-Frankreich und das Pétain-Regime versuchten, die Arbeit von Varian Fry zu unterbinden. Er wurde im August 1941 von der französischen Polizei festgenommen und in die USA abgeschoben. Das ERC-Büro wurde ein Jahr später geschlossen. Frys mutige Hilfe erfuhr erst spät Anerkennung. 1967 wurde er in die französische Ehrenlegion aufgenommen. 1996 ehrte ihn Israel mit dem Titel „Gerechter unter den Völkern“.
► Varian Fry bat 1963 prominente Künstler, denen er zur Flucht verholfen hatte, um Spenden in Form von Lithografien, zur Finanzierung eines Hilfsfonds. „Aber die meisten vertrösteten ihn oder lehnten rundweg ab. Nach zwei Jahren Bittstellerei war Jacques Lipchitz der Einzige, der ihm eine Lithografie geliefert hatte.“ Quelle: Marseille 1940, S. 326 und 327.
► Anton Räderscheidt und Hans Arp (mehr) gelang die Flucht in die neutrale Schweiz.
► Die gebürtige Kölnerin Luise Straus-Ernst (1893–1944), die erste Ehefrau von Max Ernst, deren Ehe 1926 geschieden worden war, entkam den Verfolgern nicht. Sie wurde 1944 bei Aix-en-Provence verhaftet, nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.
► Max Ernst (1891–1976), Mitbegründer der Kölner Dada-Gruppe (mehr) und seine Mäzenin Peggy Guggenheim flohen mit Hilfe von Fry im Sommer 1941 über Portugal nach den USA. Dort heiratet er die Kunstsammlerin im Dezember des Jahres. Die Ehe wurde zwei Jahre später geschieden. Guggenheim kehrte 1948 nach Europa zurück und ließ sich in Venedig nieder. Ernst und seine vierte Frau, die Künstlerin Dorothea Tanning (mehr) zogen 1953 nach Frankreich.
Literaturangaben:
Uwe Wittstock: Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur. 351 Seiten, 28 Abbildungen.
Verlag C. H. Beck, München 2024, ISBN 978 3 406 81490 7. Preis 26 Euro