Archiv 2015
TOMI UNGERER IN ZÜRICH
Der Chamäleonist
Das ist einmal ein ganz anderer Ungerer! Der weltberühmte bissig-böse Illustrator, Buchautor und Aktivist hat über Jahrzehnte bislang kaum veröffentlichte Collagen und Plastiken geschaffen. Sie werden jetzt im Zürcher Kunsthaus präsentiert.
Tomi Ungerer Join The Free and Fat Society, 1967 Offsetdruck, 58,5 x 71 cm, Collection Musée Tomi Ungerer - Centre international de l‘Illustration, Strasbourg © Diogenes Verlag AG, Zürich / Tomi Ungerer, Kunsthaus Zürich 2015 |
Der gebürtiger Straßburger Tomi Ungerer (*1931) hat sich, anders als seine illustrativen Auftragsarbeiten vermuten lassen, eine separate Schublade für freie, eigenmotiviert erstellte Kunsterzeugnisse bewahrt. 178 dieser „unbekannten Schätze“ überwiegend aus dem privaten Fundus des Künstlers sind – so das Kunsthaus Zürich – gehoben worden und werden unter dem Titel „Incognito“ präsentiert.
Tomi Ungerer Foto: © Gaëtan Bally /Keystone, Kunsthaus Zürich 2015
Tomi Ungerer The Bait, 2010 Collage, 44,5 x 33,3 cm, The Tomi Ungerer Collection, Ireland © Diogenes Verlag AG, Zürich / Tomi Ungerer, Kunsthaus Zürich 2015
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Panoptikum Der 84-jährige Elsässer, der ein überzeugter Europäer ist und der sich ob seiner Wandelfähigkeit gerne selbst als „Chamäleonist“ sieht, ist mit seiner Kunst längst zu einem vielfach ausgezeichneten globalen Star geworden.
Seine zeichnerische Welt sei ein „Panoptikum des Schrillen, Frivolen, Extremen“, merkte die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) kürzlich an, er selber sei ein Getriebener, nie ganz zufrieden mit sich. Ungerer ist berühmt für seine einzigartig derb-ironischen und provokant erotischen Zeichnungen, für seine scharfzüngigen und spitzen Kommentare und den zeichnerisch „schärfsten Strich der Welt“. Das ist die eine Seite seiner Kunst.
Expect the unexpected Der Satiriker hat aber auch eine andere, weniger bekannte, aber ebenfalls hochkommerzielle Seite: Er ist ein überaus erfolgreicher Kinderbuchzeichner, Werbegrafiker und Bildhauer, dessen Zeichnungen und Texte etwa für Kinder in viele Sprachen übersetzt worden sind.
Als Werbegrafiker schuf Ungerer unter anderem Arbeiten für den französischen Lebensmittelproduzenten „Bonduelle“ wie auch für den deutschen Computerhersteller „Nixdorf“. Ebenso erstaunlich wie ungewöhnlich: Seine 2002 realisierten Entwürfe für einen Kindergarten in Karlsruhe-Wolfartsweier. Da wurde der bildende Künstler zum Architekturzeichner, mit einem kindgerechten Hauses in Form einer stilisierten Katze.
Zu den eher unbekannten künstlerischen Werken gehören schließlich die derzeit in Zürich zu sehenden Assemblagen, Collagen und Plastiken, die seit Schaffensbeginn in den 1950er- Jahren ein integraler Bestandteil seines Gesamtwerks sind. Die Ausstellung trägt diesem bedeutsamen Werkbereich Ungerers erstmals umfassend Rechnung, was ganz dem Geiste des Künstlers selbst entspricht: „Expect the Unexpected!“
Angeeignet hatte sich Tomi Ungerer die kreative Technik der Collage bereits vor fast sechs Jahrzehnten, lange bevor die Kunstgeschichtsforschung gegen Ende der 60er-Jahre ein gehäuftes Auftreten von Collagen und Material-Montagen in den unterschiedlichsten Techniken konstatierte.
Tomi Ungerer Journey‘s last leg, 2005 Collage, 28,5 x 39,7 cm, The Tomi Ungerer Collection, Ireland © Diogenes Verlag AG, Zürich / Tomi Ungerer, Kunsthaus Zürich 2015 |
Tomi Ungerer Great Expectations, 2009 Collage, 55,5 x 41 cm, The Tomi Ungerer Collection, Ireland © Diogenes Verlag AG, Zürich / Tomi Ungerer, Kunsthaus Zürich 2015
Tomi Ungerer Deutscher Bankier, 1990/ 2000 Collage, Tusche und Farbstift auf Papier, 49 x 35,5 cm, Sammlung Würth, © Tomi Ungerer, Kunsthaus Zürich 2015
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Ungerer museal Heute sichern ihm das Musée de la Ville de Strasbourg (Musée Tomi Ungerer/Centre international de l´illustration) und die Sammlung Würth eine dauerhafte Präsenz.
Im Kunsthaus Zürich stammt über die Hälfte der gezeigten Exponate aus dem Besitz des Künstlers selbst. Dieses weitgehend bislang nicht öffentlich präsentierte Material hat Kuratorin Cathérine Hug in enger Abstimmung mit Ungerer zusammengetragen. Auf polemisierende Darstellungen von Mann und Frau folgen Stadt- und Landschaftsansichten. Dem Ornamentalen und Seriellen als formale Metapher der Gesellschaftskritik und Disparität wird ein eigener Bereich gewidmet. Skulpturen und Objekte setzen in der Ausstellung überraschende Akzente.
Die wohl umfangreichste thematische Gruppe befasst sich mit dem Körper, fragmentiert und verletzlich, als Fetisch und Objekt der Begierde. Dieses Thema, von Ungerer satirisch in Szene gesetzt, zieht sich durch alle seine Schaffensphasen – von den 1950er-Jahren bis heute. Es ist sozusagen eines seiner Markenzeichen.
Traditionen Interessant ist, dass das Kunsthaus Zürich, wie es mitteilt, die Aussstellung „Incognito“ in einer gewissen Art von Tradition verortet. Denn mehrfach würdigte es mit Schauen die künstlerisch-unabhängigen Werke von zunächst als Illustratoren bekannt gewordene Künstler.
So wurde bereits Anfang der Fünfzigerjahre Henri de Toulouse-Lautrec (mehr) ausgestellt. Andy Warhol, der wie Ungerer übrigens in New York zeitgleich arbeitete und sich mit der bildnerischen Umsetzung von Fragen zum Narzismus, zu Erotik und Politik befasste, erhielt 1978 eine Präsentation an der Limmat. 2007 fand Félix Vallotton in Zürich sein Publikum und 2008 wurden Ausstellungen zu den Illustratoren Honoré Daumier (mehr) und dem Cartoonisten Saul Steinberg (mehr) - einer der Impulsgeber für Ungerer in jungen Jahren - arrangiert.
Tomi Ungerer, der brillante Maler und Zeichner, ist darüber hinaus ein begnadeter Geschichtenerzähler. Damit reiht er sich - so sehen es die Ausstellungsmacher - in eine zweite Traditionslinie des Kunsthauses ein, die namhaften Schriftstellern wie unter anderen Friedrich Dürrenmatt (1992), Alfred Jarry (1985), Marquis de Sade (2002) und Victor Hugo (1987) bereits Ausstellungen widmete.
K2M
► Die Ausstellung „Incognito“ wird ab dem 18. März 2016 im Museum Folkwang Essen gezeigt.
► In Straßburg ist seit 2007 das Musée Tomi Ungerer – centre international de l'illustration untergebracht. Die Sammlung gründet sich auf eine Schenkung des Künstlers, der heute abwechselnd in Irland und Straßburg lebt und der Stadt Staßburg einen Teil seines grafischen Werks vermacht hat.
Die Ausstellung „Incognito“ ist noch bis zum 7. Februar 2016 in Zürich zu sehen.
Kunsthaus Zürich
Heimpl. 1,
8001 Zürich, Schweiz
Tel. +41 44 253 84 84
Öffnungzeiten
DI, FR, SA, SO 10 - 18 Uhr
MI, DO 10 - 20 Uhr