Archiv 2017
UNESCO-DOKUMENTENERBE
The Family of Man
Der in Luxemburg geborene amerikanische Fotograf und Museumsdirektor Edward Steichen kuratierte 1955 für das New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) die bis heute erfolgreichste Foto-Ausstellung aller Zeiten.
Henri Cartier-Bresson Sumatra, Indonesia, 1950, Foto © Lee Friedlander/Magnum Photos/Fondation Henri Cartier-Bresson |
Seit über 20 Jahren ist die Schau mit dem Titel The Family of Man im Schloss Clervaux im Großherzogtum Luxemburg zu sehen. Es ist die letzte vollständige und restaurierte Version der Wanderausstellung. 2003 wurde sie in das Weltdokumentenerbe der UNESCO eingetragen.
Bilderschloss Die ständige Ausstellung "The Family of Man" im Schloss von Clervaux zieht jährlich über 25.000 Besucher aus aller Welt an. Foto © rheinische Art 2017
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Was soll an dieser über 60 Jahre alten Nachkriegs-Exposition so bemerkenswert sein? Zwei Dinge: Zum einen die aufgrund ihrer Konzeption und Inszenierung große Popularität der Ausstellung im Jahr ihrer Entstehung, zum anderen der danach anhaltende Besucherstrom weltweit, der sich durch gezielte kulturpolitische Förderung und Einwirkung einstellte. Denn nach der Premiere im MoMA 1955 ging dieses „kollektive Weltportrait“, wie es einmal betitelt wurde, auf Welttournee – in 150 Museen in 38 Ländern wurde es gezeigt.
Dorothea Lange Wanderarbeiterin mit Kindern Nipomo, Californien, 1936 Foto © MoMA New York
Jack Delano Mr. and Mrs. Andrew Lyman, Polish tobacco farmers near Windsor Locks, Connecticut, 1940. Farm Security Administration Foto © Library of Congress
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Thema Mensch Nach Steichens Konzept - und dies dürfte entscheidend für den Erfolg gewesen sein - sollten nach den traumatischen Leidensjahren des Krieges die Gemeinsamkeiten der Menschheit betont werden.
Die Fotografien zeigen daher Menschen aller Herkünfte, aller Kontinente, Altersgruppen und sozialen Schichten. Und dies in Lebenssituationen, die universell Gültigkeit haben, in denen sich also jeder wiederfinden kann: Menschen bei der Arbeit, in der Familie, bei Hochzeiten, bei Geburt und Tod, Junges und Altes, Krieg und Frieden, Hell und Dunkel stehen gleichberechtigt nebeneinander.
Die Aufnahmen, thematisch gruppiert und allesamt in schwarz-weiß, tragen außer dem Namen des jeweiligen Fotografen keine Texte und sollen ohne Worte auf der ganzen Welt verstanden werden.
Die Stationen der Weltschau erstreckten sich seinerzeit über vier Kontinente und reichten von Berlin, Bombay, Moskau und Tokio bis nach Zürich. Die mythenschwere Sammlung besteht aus 503 Fotografien, aufgenommen von 273 Fotografen aus 68 Ländern. Die von Steichen zusammen getragene "Menschheitsfamilie" wurde von Anfang an als humanistische Fotografie-Kollektion verstanden, als Manifest für den Frieden und die grundsätzliche Gleichheit der Menschen. So weit so gut.
Kritik Das wurde in einigen Fachkreisen hingegen nicht so gesehen. Als „sentimentales Spektakel“ und unerträglich flache Bilderschau wurde die Ausstellung bezeichnet. Die Kritik entzündete sich an vielen biblischen Zitaten, so dass die Ausstellung als eine Predigt in Bildern („a pictorial sermon“) charakterisiert wurde. Einige Kritiker sahen eine ideologische Aufladung, die die Schau damit zu einem mehr oder weniger verdeckten Polit-Werkzeug im Kalten Krieg jener Jahre gemacht habe.
Blick in die Ausstellung Foto © rheinische ART 2017 |
Die Bildauswahl selbst blieb ebenfalls ein Stein des Anstoßes. Steichens MoMA-Team sichtete aus einer Million Bilder rund 10.000 Kontaktabzüge, aus denen wiederum die 503 Exponate gewählt wurden. Das Anstößige für manche Kunstrichter: Die Auswahl stammte überwiegend aus den Archiven der Library of Congress und der Sammlung der Farm Security Administration, die in den 1930er Jahren zahlreiche Fotografen mit der Dokumentation der gesellschaftlichen Verhältnisse in den USA beauftragt hatte. Viele Fotos kamen ferner aus den Nationalarchiven und vom Magazin Life, von National Geographic oder Fortune. Inhalt und Aussage der Schau, so die Kritik, seien durch die Monopolstellung der US-Medien und die führende Stellung des MoMA bestimmt.
Garry Winogrand Coney Island, New York circa 1952. © The Estate of Garry Winogrand/Courtesy Fraenkel Gallery/Purchase and gift of Barbara Schwartz in memory of Eugene M. Schwartz |
Unbestreitbar bleibt, dass Steichen die Aufnahmen von Spitzen-Fotografen wie Ansel Adams, Robert Capa (mehr), Henri Cartier-Bresson (mehr), Walker Evans (mehr), Dorothea Lange, Robert Doisneau, dem Kölner August Sander oder dem Straßenfotografen Garry Winogrand (mehr) auf modernistische und spektakuläre Weise in Szene setzte. Und: The Family of Man war ein Produkt seiner Zeit und seines Schöpfers, seiner politischen und kulturellen Ausrichtung und Denkweise. Somit ist die Dauerausstellung in Luxemburg heute ein wichtiges Zeitzeugnis und zu Recht ein Weltdokumentenerbe.
Richard Harrington Inuit Mother Caresses Her Child in Igloo, Padleimut Tribe, N.W.T., 1950. © Richard Harrington/The Museum of Modern Art, New York, The Family of Man Fund
Katalog von 1955 Foto © Museum of Modern Art (MoMA) New York
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Zwischen 1955 und 1964 tourte The Family of Man - in mehreren Kopien der MoMA-Version und mit teils reduzierten Fotobeständen - als Wanderausstellung um die Welt, protegiert durch die staatliche US Information Agency (USIA), die vom US-Außenministerium finanziert wurde.
Die Besucherzahlen, die zwischen neun und zehn Millionen in den knapp zehn Jahren gelegen haben sollen, sprengten damit alles bisher Dagewesene. Nach USIA-Angaben wurde die Schau zum Beispiel in Chicago von über 300.000, in Japan von 620.000 und in Indien von mehr als 1,5 Millionen Besuchern gesehen.
Kein Kurator vor Steichen, das ist sicher, hatte so viele Fotografien für eine Ausstellung zusammengetragen, die ein derart großes Publikum zu berühren und zu begeistern vermochte. Die Schau ist damit nicht nur eine der legendärsten sondern die wohl bedeutendste und einflussreichste Ausstellung in der Geschichte der Fotografie überhaupt.
Der Katalog, publiziert in mehreren Neuauflagen und übersetzt in 38 Sprachen, ist mit über vier Millionen verkauften Exemplaren das meistverlegte Fotobuch, das je auf dem Markt war. Ein derartiger Erfolg war nicht unbedingt absehbar. Und so mancher Fotokünstler, der es bei Steichens Akquise ablehnte, sich mit Werken zu beteiligen, hat es im Nachhinein bedauert. Der US-Fotograf Harold Feinstein (1931-2015) erklärte in seinen Erinnerungen, dass seine Ablehnung, Werke zur Ausstellung beizutragen, „die dümmste Entscheidung“ seiner Karriere gewesen sei.
Nach Ende der Tournee schenkte die US-Regierung 1966 die letzte Auflage der Ausstellung Steichens Geburtsland Luxemburg. Dort ist sie seit 1994 als permanente Installation im Schloss Clervaux zu sehen.
Blick in die Ausstellung "The Family of Man", Schloss Clervaux Foto © CNA/centre national de l´audiovisuel, Clervaux; Romain Girtgen 2013 |
Zum Zeitpunkt des Kuratierens war Steichen 76 Jahre alt und verstand die späte Foto-Sammlung als Krönung seiner Vita. Hier ist ein Blick auf seine berufliche Laufbahn von Interesse, denn der alleinige Fokus auf die Superschau The Family of Man verstellt heute schnell die Sicht auf das breite fotografische Œuvre des Amerikaners, der als eine der Schlüsselfiguren der Fotografie des 20. Jahrhunderts gilt.
Edward Steichen Self-portrait with Studio Camera, ca. 1917 © 2016 The Estate of Edward Steichen/ ARS New York
Edward Steichen Greta Garbo, Hollywood 1928 (print after 1953) gelatin silver print Vanity Fair, September 1930 Foto © MNHA Luxemburg |
Eduard Jean Steichen (1879-1973), so der ursprüngliche Name, kam als Zweijähriger mit seinen Eltern in die Vereinigten Staaten. Als Teenager begann er zu fotografieren und mit 20 Jahren hatte der talentierte Autodidakt eine erste Präsentation im "Philadelphia Photographic Salon" in Chicago.
Steichen nahm ein Malereistudium in Paris auf, lernte dort neue Fototechniken kennen und wechselte zur Fotokunst, der sein wahres Interesse galt. Seine stimmungsvollen, romantischen Fotografien im Stil des Pictorialismus - mit unscharfen Konturen, dem Einsatz diffusen Lichts und fließenden Übergängen - erschienen regelmäßig im Quartals-Fachmagazin Camera Work.
1905 gründete er in New York mit seinem Mäzen, dem Galeristen Alfred Stieglitz, die Galerie „291“, die bis 1917 bestand. Nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich Steichen zum höchstbezahlten Fotografen in der US-Mode- und Werbewelt. Ab 1923 arbeitete er als Direktor für den Verlag Condé Nast und für die Zeitschriften Vogue und Vanity Fair. Steichen werden die wichtigsten Standards für die Modefotografie zugeschrieben, die in jenen Jahren einen rasanten Aufschwung nahm (mehr). Er erwarb auch in der Portraitfotografie mit Bildnissen von Charlie Chaplin, Marlene Dietrich oder Grete Garbo weltweites Renommee.
Im Zweiten Weltkrieg war Steichen Reserve-Kommandant und Kriegsfotograf bei der US-Navy. Er organisierte für das MoMA die propagandistischen Foto-Ausstellungen „Road to Victory“ (1942) und „Power in Pazifik“ (1945). Zu seinen Arbeiten gehörte ferner der farbige Dokumentarfilm „The Fighting Lady“, den er für die Navy drehte. Geschildert wird darin in heroischer Art der Alltag auf einem US-Flugzeugträger in Pazifikkrieg. 1945 erhielt der Film einen Oskar als bestes Dokumentarwerk.
Ab 1947 war Steichen Direktor der MoMA-Fotoabteilung. Er verantwortete in dieser Position annähernd 50 Ausstellungen. Auffällig ist, dass sein Schaffen in Europa nur in wenigen Ausstellungen reflektiert und gewürdigt worden ist. Dagegen gilt er als Künstler, Kurator und Fotograf in den Vereinigten Staaten als wegweisende Persönlichkeit.
Claus P. Woitschützke
► Unter der Bezeichnung Steichen Collections vereint das Großherzogtum Luxemburg drei Sammlungen, die Steichens mehrgleisige Tätigkeiten zeigen. Im Musée National d´Histoire et d´Art (MNHA) wird er als Fotograf gewürdigt. Das Centre national de l´audiovisuel (CNA) in Clervaux zeigt die Sammlungen The Family of Man und im Wasserturm von Düdelingen ist die 200 Bilder starke Dokumentation The Bitter Years ausgestellt.
The Family of Man
Château de Clervaux
B.P. 31
L-9701 Clervaux
Luxembourg
Tel +352 92 96 57
Öffnungszeiten ab 2. März 2017
MI - SO 12 - 18 Uhr
Führungen außerhalb der Öffnungszeiten auf Anfrage.
Literaturhinweise:
Astrid Böger „Family of Man“ vs The Americans, in: Visuelle Kulturen der USA zur Geschichte von Malerei, Fotografie, Film, Fernsehen. Neue Medien in Amerika, Hrsg. Christof Decker 2010
Silke Walther Essay „Von der Fotografie als Weltsprache zum Theater der Realität“. Anmerkungen zur „Family of Man“ im Museum of Modern Art. In: Maßlose Bilder. Visuelle Ästhetik der Transgression, München: Wilhelm Fink Verlag 2009.