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rheinische ART 11/2024

SURREALISMUS
Von Kohle und Kokillen zu Kunst und Kultur


Die südbelgische Stadt Charleroi sorgt für Überraschungen. Einst ein prosperierendes  Zentrum der Kohle-, Glas- und Stahlindustrie, hat die Stadt nach einer radikalen Transformation den Weg zu einem lebendigen Kulturlabor eingeschlagen.

 

Street-Art-Gallery an einer ehemaligen Industrieanlage. Bildquelle © VISIT Wallonia/ Wallonie Belgique Tourisme (WBT/OPT asbl) 2024

  

Es hat Jahrzehnte gedauert, bis Charleroi sich von seiner industriellen Vergangenheit lösen und als Zentrum für Kunst, Kultur und Innovation neu erfinden konnte. Ab etwa 1970 erlebte die Stadt – ähnlich wie das gesamte wallonische Industriegebiet – einen tiefen Niedergang, vergleichbar mit dem Schicksal des Ruhrgebiets.

     Die Spuren der industriellen Ära sind jedoch nicht verschwunden: Verfallene Kohlezechen, nutzlose Kühltürme, verlassene Hochöfen und Lagerhäuser sowie die markanten, kegelförmigen Abraumhalden, die hier „terril" genannt werden, prägen das Stadtbild entlang der Sambre. Für manche Besucher, insbesondere aus Deutschland, mag der erste Eindruck lauten: „Wie? Alles stillgelegt, aber nichts aufgeräumt?“

 

Der berühmte Page Spirou und das Eichhörnchen Pips empfangen Reisende überlebensgroß am Bahnhof Charleroi Süd. Es sind Ikonen der europäischen Comicgeschichte. Figuren wie etwa Lucky Luke, Spirou und die Schlümpfe wurden in Charleroi erfunden. Ihre Schöpfer bildeten die „École de Marcinelle“. Foto Christophe Vandercam, Bildquelle © VISIT Wallonia/Wallonie Belgique Tourisme (WBT/OPT asbl) 2024


Doch hinter diesem scheinbaren Durcheinander von altem Stahl, Schrott und Steinen verbirgt sich Kreativität. Dank regionaler Fördermittel, gezielten Programmen zur De-Industrialisierung sowie privater Initiativen hat Charleroi innovative Projekte ins Leben gerufen, um sich von einem verarmten Industrieort zu einem Zentrum für digitale Innovation zu wandeln.

 

Mit einer Ausstellungsfläche von 2.200 Quadratmetern ist das Fotomuseum führend in Europa. Bildquelle © VISIT Wallonia/ Wallonie Belgique Tourisme (WBT/OPT asbl) 2024

 

Surrealistische Fotografie Paul Nougé Der Enthüllungsarm (Le bras révélateur, de la série Subversion des images) Foto © Paul Nougé, Le bras révélateur, de la série Subversion des images, 1929-1930. Coll. privée, dépôt au Musée de la Photographie.br © SABAM Belgium 2024. Bildquelle Fotomuseum Charleroi/VISIT Wallonia/Wallonie Belgique Tourisme (WBT/OPT asbl) 2024

Eine der wichtigen Kultureinrichtungen der Stadt: Das renommierte Fotomuseum in einem ehemaligen Karmeliterkloster. Es genießt internationalen Ruf für seine Ausstellungen, die Größen wie August Sander und Henri Cartier-Bresson ehren.

     Es gilt mit einer Gesamtfläche von 6.000 Quadratmetern als das größte und eines der bedeutendsten Fotografie-Museen in Europa. Seine Sammlung umfasst 100.000 Fotografien, davon mehr als 800 in Dauerausstellungen, und 1,5 Millionen konservierte Foto-Negative.

     Zum 100. Jahrestag des Erscheinens von André Bretons Manifest des Surrealismus hat das Museum aus seinen Beständen eine Auswahl aus den verschiedenen Strömungen dieser Kunstrichtung getroffen und präsentiert sie in der Schau „Surréalisme, pour ainsi dire…“ (Surrealismus sozusagen...).Die surrealistische Fotografie zählt zu den Sammlungsschwerpunkten des Hauses.

 

Doch Charleroi bietet kulturell weit mehr! Das Stadthaus beeindruckt mit seinem großartigen Art-Déco-Stil aus den 1930er-Jahren. Es dient als repräsentatives Rathaus und Kulturzentrum, das innen mit exotischen Edelhölzern aus dem damaligen Belgisch-Kongo (mehr), Carrara-Marmor und böhmischem Kristall ausgestattet ist.
     Moderne Kunst findet sich im Palais des Beaux-Arts, das eine hochkarätige Sammlung belgischer Kunst des 20. Jahrhunderts beherbergt. Zu den ausgestellten Werken zählen Meister des Symbolismus und Surrealismus wie René Magritte, Paul Delvaux und James Ensor.

     Und es gibt weitere sichtbare Fortschritte. Ehemalige Industriegebäude erstrahlen in neuem Glanz und mit frischen Funktionen. Das frühere Kohlebergwerk Le Bois du Cazier, einst ein Symbol für den Reichtum durch Kohle und Stahl, wurde zu einem interaktives Museum umgestaltet und mit dem Titel UNESCO-Weltkulturerbe geadelt.

     Doch es erinnert auch an eine Tragödie: Am 8. August 1956 starben dort 262 Bergleute bei einem Brand unter Tage, mehr als die Hälfte von ihnen italienische Gastarbeiter – das schwerste Grubenunglück in Belgiens Geschichte.

 

Für Comic-Fans ist ein Parcours zu Fresken und Skulpturen der Comic-Szene interessant. Sie entstand als „Neunte Kunst“ bereits 1938 im Stadtteil Charleroi-Marcinelle. Zu ihren Hauptfiguren gehörten Spirou und Fantasio, vergleichbar Tim und Struppi (mehr). Foto Bruno D´Alimonte, Bildquelle © VISIT Wallonia/Wallonie Belgique Tourisme (WBT/OPT asbl) 2024

 

Die ehemaligen Treidelpfade entlang der Sambre sind heute urbane Wanderwege, die fast einer kilometerlangen Street-Art-Galerie gleichen. Farbenfrohe, teils provokante Graffitis haben sich zu einem Markenzeichen von Charleroi entwickelt.

     Und die hatten im Übrigen einen Vorläufer. Der frankobelgische Comicstil mit berühmten Figuren hatte hier seinen Ursprung. Der Wandel von der Schwerindustrie hin zu einer zukunftsorientierten Kulturmetropole ist überall sichtbar. Zum Beispiel im Stadtteil Marchienne-au-Pont, wo das Projekt „Urban Dreams" Künstler dazu aufforderte, die grauen Stadtteile kreativ umzugestalten.


Der Imagewandel war dringend notwendig, denn Charleroi und seine Umgebung, das „Pays Noir“ (Schwarzes Land), hatten einen schlechten Ruf. Um genau zu sein: einen verheerenden.

     Die internationale Presse betitelte Belgiens drittgrößte Kommune schonungslos als „hässlichste Stadt der Welt“ – so etwa die niederländische Tageszeitung De Volkskrant. Selbst die Neue Zürcher Zeitung bemerkte kürzlich, dass Charleroi seinen „morbid angehauchten Ruf so schnell nicht loswerden“ könne.

     Dabei wurde ein Vergleich gezogen, ob Charleroi vielleicht das belgische Pendant zum „arm, aber sexy Berlin“ sei – eine Anspielung auf die Ära von Klaus Wowereit. Dies stößt jedoch bei vielen auf geteilte Meinungen.

     Man könnte nämlich auch sagen: Wer braucht schon Geld, wenn Mut und Visionen ausreichen, um eine kulturell pulsierende Stadt zu schaffen? Charleroi bietet heute nicht nur eine spannende Industriekulisse, sondern auch ungewöhnliche Erlebnisse wie abenteuerliche „Urban Safaris“ durch die Straßen der Stadt.
rART/ruwoi

 

Die Ausstellung „Surréalisme, pour ainsi dire…“ (Surrealismus sozusagen...) wird bis zum 26. Januar 2025 gezeigt.
Musée de la Photographie
Centre d’art contemporain de la Fédération Wallonie

11 Avenue Paul Pastur
6032 Charleroi / Belgien
Tel +32 71 43 58 10
Öffnungszeiten
DI – FR 9 – 17 Uhr
SA, SO 10 – 18 Uhr

 

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