Archiv 2017
RUSSIAN ART IN LONDON
Avantgarde und Agitprop
Kunst aus Russland bleibt gefragt. Zum 100. Jahrestag der russischen Oktoberrevolution von 1917 blickt so manche Exposition auf dieses geschichtliche Datum und die legendären 15 Jahre danach. Jene eineinhalb Dezennien also, die Russlands Gesellschaft wie die gesamte dortige Kultur-und Kunstszene veränderten.
Kazimir Malevich Peasants (Bauern) c. 1930. Oil on canvas. 53 x 70 cm. State Russian Museum, St. Petersburg Photo © 2016, State Russian Museum, St. Petersburg. © Royal Academy of Arts, London, 2017 |
In London hat die Royal Academy of Arts eine Ausstellung aufgelegt, die sich ausschließlich auf diesen kurzen Zeitraum bezieht. „Revolution. Russian Art 1917-1932“, so der Titel, ist der Blick auf eine Epoche, die nicht nur Russland, sondern die Welt veränderte. Zeitliche Eckpfeiler sind die Oktoberrevolution 1917 und Stalins gewalttätige Unterdrückung der Avantgarde ab 1932.
In London gibt es jetzt durchaus Neues zu sehen. Die Ausstellung, mit über 200 Exponaten gut bestückt, ist breiter aufgestellt und bezieht ihren besonderen Reiz aus dem Nebeneinander der Avantgarde-Kunst von Protagonisten wie Chagall, Lissitzky, Kandinsky, Malewitsch, Rodtschenko oder Tatline und künstlerischen Gruppierungen des Sozialistischen Realismus mit Akteuren wie Brodsky, Deineka, Kustodijew, Mukhina und Samokhvalov.
Boris Mikhailovich Kustodijev Bolshevik (Bolschewik), 1920. Oil on canvas. 101 x 140.5 cm. State Tretyakov Gallery Photo © State Tretyakov Gallery. © Royal Academy of Arts, London, 2017 |
Nach der Oktoberrevolution der Bolschewiki unter der Führung von Lenin brach eine neue, ungeheuer optimistische Zeit an. Das verhasste Zarenreich und die Katastrophe Erster Weltkrieg waren weggewischt. Es war ein radikaler Wendepunkt, der einen rauschhaften kulturellen Aufbruch erzeugte. Die schöpferischen Freiheiten und Möglichkeiten schienen grenzenlos, die Zukunft grandios, Idealisten wie auch Utopisten entwickelten neue künstlerische Positionen und gesellschaftliche Denkmodelle, die, in der Gesamtheit betrachtet, eine einzigartige postrevolutionäre Mélange bildeten.
Kuzma Petrov-Vodkin Fantasy (Fantasie) 1925. Oil on canvas. 50 x 64.5 cm. State Russian Museum, St. Petersburg Photo © 2016, State Russian Museum, St. Petersburg. © Royal Academy of Arts, London, 2017
Andrey Golubev Red Spinner, 1930. Cotton Print, direct printing chintz. 17.5 x 27 cm. The Burilin Ivanovo Museum of Local History Photo © Provided with assistance from the State Museum and Exhibition Center ROSIZO. © Royal Academy of Arts, London, 2017
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Die großen Namen der Kunstszene und viele andere veränderten die Kulturlandschaft. Literaten begannen zu malen und Maler entdeckten ihre literarischen Adern. Idyllische Traumbilder, Fantasien, Abstraktionen und russische Volkskunst wechselten und vermischten sich mit den ersten Motiven des Sozialistischen Realismus und politischen Agitprop - jener Werbung für Lenins kommunistische Politik, die sich der Agitation und Propaganda bediente.
Die russischen Avantgarde-Künstler, die es schon vor 1917 gab, hofften, in der neuen revolutionären Macht mehr Freiraum zu haben. Sie blickten nach Westen und suchten dort nach Kooperationen, entwickelten eigene künstlerische Spielarten, so etwa den Kubofuturismus oder den Suprematismus.
Ihre Vertreter wirkten als Multiplikatoren auf allen Ebenen: als Kulturfunktionäre und Hochschullehrer, Designer und Architekten. Ihr neues Formenvokabular spiegelte sich im öffentlichen Raum auf Plakatwänden und Bucheinbänden bis hin zum Dekor auf edlem Geschirr.
Isaak Brodsky V.I.Lenin and Manifestation (V.I. Lenin und das Manifest) 1919. Oil on canvas. 90 x 135 cm. The State Historical Museum Photo © Provided with assistance from the State Museum and Exhibition Center ROSIZO. © Royal Academy of Arts, London, 2017 |
Stalin-Ära Aber mit der Gründung der Sowjetunion 1922 und dem Beginn der Stalin-Ära drehte sich der Wind langsam. Aus russischen wurden sowjetische Avantgardisten und nach 15 Jahren war schließlich alles wieder vorbei. Denn Ende 1932 hatte nach Stalins Machtergreifung die staatliche Unterdrückung bereits wieder einen Vorhang vor das kreative Leben gezogen.
Die einzig akzeptierte Kunstrichtung hieß ohne Wenn und Aber „Sozialistischer Realismus“ (mehr) Es war der Beginn einer, später auch kontinentalen, Zweiteilung: grob gesehen von freier, abstrakter Kunst und figurativer Staatskunst, die sich auf den gesamten „Ostblock“ erstreckte (mehr). Diesem staatlichen Kunstdiktat wollten sich allerdings im Sowjetreich längst nicht alle unterordnen.
Kazimir Malevich Dynamic Suprematism Supremus (Dynamischer Suprematismus) c. 1915. Oil on canvas. 80.3 x 80 cm. Tate: Purchased with assistance from the Friends of the Tate Gallery 1978 Photo © Tate, London 2016. © Royal Academy of Arts, London, 2017
Wassily Kandinsky Blue Crest (detail), 1917. Oil on canvas. 133 x 104 cm. State Russian Museum, St. Petersburg Photo © 2016, State Russian Museum, St. Petersburg. © Royal Academy of Arts, London, 2017
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Avantgardisten Die dynamischen Abstraktionen von Kasimir Malewitsch (mehr) wurden ignoriert oder als dekadent und formalistisch abgetan, der Künstler starb 1935.
Der Mitbegründer des Konstruktivismus, El Lissitzky, der noch 1922 in Berlin die Erste Russische Kunstausstellung mitorganisierte - im Übrigen die erste Präsentation russischer Kunst zu Anfang des 20. Jahrhunderts in Westeuropa und ein Höhepunkt der auswärtigen Kulturpolitik der jungen Sowjetunion –, versuchte sich leidlich als loyaler Stalinist. Bis zu seinem Tode 1941 arbeitete er bei der sozialpolitischen Illustrierten „UdSSR im Bau“. Der Staatskunst hatte er sich zeitlebens jedoch nie verschrieben.
Alexander Rodtschenko, der erste russische Künstler, der sich der Collage-Technik bediente, stellte als Mittvierziger in den frühen Dreißigerjahren seine ernsthafte Arbeit ein und zerstörte - vermutlich desillusioniert - viele seiner Werke.
In Vergessenheit geriet auch Wladimir Tatline, der als einer der außergewöhnlichsten Künstler nicht nur Russlands, sondern seiner Zeit galt (mehr). Ab 1934 arbeitete der Maler und Architekt nur noch an Theaterentwürfen. Als man ihn 1953 in Moskau zu Grabe trug, so eine Biographie, hatte er ein schweres Lebensende hinter sich. Seine avantgardistischen Freunde werden mit dem Satz zitiert: „Und als er starb, waren nur sieben oder acht von uns bei seinem Begräbnis.“
Unknown artist Advertisement 'Of course, cream-soda!' (Werbung Natürlich Creme-Soda!) 1926. Paper, chromolithograph. 46 x 29.5 cm. The State Museum of the History of St Petersburg Photo © Provided with assistance from the State Museum and Exhibition Center ROSIZO. © Royal Academy of Arts, London, 2017
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Ästhetische Revolte Die Ausstellung verdeutlicht, wie radikal sich die russische Kunst bewegte und damit eine ästhetische Revolte auslöste. Und sie lässt erkennen, dass die mit ihr einhergehenden kommunistisch unterfütterten sozialen Ziele Utopien blieben - es gab keine neue glänzende Welt und keine neuen Menschen.
Zu den Exponaten gehören unter anderem Fotografien, Skulpturen, Filmarbeiten von Pionieren des Genres wie Sergei Eisenstein (Panzerkreuzer Potemkin) und evokative Propagandaplakate, die eine regelrechte goldene Ära des russischen Grafikdesign begründeten. Das tägliche Leben der 15 kreativen Jahre nach der Oktoberrevolution wird anhand von Gegenständen des Alltags verdeutlicht, angefangen von Lebensmittel-Coupons über Kleidung bis hin zum brillanten originalen sowjetischen Porzellan.
cpw
Die Ausstellung „Revolution: Russian Art 1917-1932“ wird bis zum 17. April 2017 gezeigt.
Royal Academy of Arts
Piccadilly site
Burlington House, Piccadilly
London W1J0BD
Öffnungszeiten
SA – DO 10-18 Uhr
FR 10 – 22 Uhr