rheinische ART
Start | | Über uns | Anzeigen | Impressum | Kontakt | Datenschutz

rheinische ART 03/2022

Archiv 2022

KULTUR UND POLITIK
Raketenstation

 

Die jüngsten Entwicklungen in Osteuropa lassen eine fast vergessene Zeit wieder auftauchen: die des Kalten Krieges und des Rüstungswettlaufes der Atommächte. Über 30 Jahre ist das her.

 

Ehemaliger Bunker auf dem Areal der Raketenstation Hombroich in Neuss. Dahinter Archiv und Bibliothek, 1999/2000 nach Plänen des Architekten Erwin Heerich erbaut.  Foto © rheinische ART 2022

  

Die Ereignisse in der Ukraine lenken gleichzeitig den Blick auf das, was von der brandgefährlichen Zeit des Kalten Kriegs noch übriggeblieben ist und einer anderen, friedvollen Nutzung zugeführt wurde. Zum Beispiel auf die ehemalige Raketenstation der NATO am Niederrhein bei Neuss.

 

NATO-Station Zustand 1990 vor dem Verkauf. Foto © Rhein Kreis Neuss 1990

 

Alles begann im Jahre 1962, in der Hochzeit der eskalierenden west-östlichen Rivalität. Nachdem belgische Streitkräfte im Rahmen von NATO-Planungen zunächst eine Kaserne für 300 Soldaten in dem Gebiet errichteten, begann direkt auf einer Anhöhe in unmittelbarer Nähe bei Hombroich westlich der Stadt Neuss der Bau einer Raketenbasis. Sie wurde 1967 im Auftrag des US-Militärs von einem Geschwader der belgischen Luftwaffe in Dienst genommen.

 

 

Informationsschild der Wehrbereichsverwaltung III nach Abzug der amerikanischen Truppen (um 1990) Foto © Rhein Kreis Neuss

 

Von da an war dieser idyllische Flecken rheinischer Erde Teil des stationären rückwärtigen NATO-Luftverteidigungssystems vom Nordkap bis zur Türkei. Finanziert von der Militärgemeinschaft (Kosten: 60 Mio. DM), gebaut vom Finanzbauamt Mönchengladbach, auf einer Fläche von 13 Hektar.

     Die Abschussbasis war wie alle vergleichbaren Verteidigungsanlagen jener Zeit auf keiner Landkarte und keinem amtlichen Bebauungsplan zu finden. Sie wurde auf den Ländereien eines Zweiges der westfälischen Adelsfamilie von Papen errichtet. Die Familie veräußerte die erforderlichen Flächen an die Bundesvermögensverwaltung, die diese den NATO-Mitgliedern überantwortete.

 

Rund ein Vierteljahrhundert bestanden Kaserne, Feuerleitstelle und Raketenstation. Auf dem Höhepunkt des militärischen Säbelrasselns war diese Abwehrwaffe des Kalten Krieges mit Cruise-Misile-, Pershing- und Nike-Hercules-Flugabwehrraketen ausgerüstet. Letztere Lenkflugkörper waren gegen Flugziele im mittleren und großen Höhenbereich vorgesehen. Und wie heute bekannt ist, hatte die Raketenbasis atomaren Status. Denn es gab nukleare Sprengköpfe auf dem Gelände.

     Als Folge der Abrüstungsverträge zwischen den USA und der Sowjetunion und der vereinbarten Vernichtung von Mittel- und Langstreckengeschossen begann 1985 der Abzug der belgischen Besatzung. Sämtliche militärischen Einrichtungen wurden demontiert oder vernichtet; 1990 schließlich waren die Abschreckungswaffen endgültig verschwunden und das Areal lag brach.

 

Wachturm ehemals ausgerüstet mit einem Rundsuch-Radar. Heute Atelier und Wohnhaus für das Thomas Kling Archiv (privat), Foto © rheinische ART 2022

 

Dass die Raketenstation heute einen Teil der nicht nur bundes- sondern auch europaweit bemerkenswertesten, eigenwilligsten und faszinierendsten Kunst- und Kultureinrichtungen – der Stiftung Insel Hombroich – bildet, ist dem Engagement eines Sammlers und eines kunstaffinen Landrates zu verdanken.

     Was damals nämlich als unsinnig galt und auf verständnisloses Kopfschütteln stieß, war die bahnbrechende Entscheidung des Düsseldorfer Kunstsammlers, Mäzen, Maklers und Gründer der Insel Hombroich Karl-Heinrich Müller.

     Müller war bekannt als visionärer Mensch, der sich auch Ungewöhnliches vorstellen konnte. Er spielte mit dem Gedanken, das ehemalige Militärareal zu kaufen und für kulturelle Belange umzubauen. Zwölf Jahre zuvor hatte er bereits in der nicht weit entfernt liegenden Flussaue der Erft ein Eiland erworben, das unter der Bezeichnung „Museum Insel Hombroich“ seine bedeutende Kunstsammlung beherbergte.

     Nun war es keinesfalls so, dass den Kunstförderer mit seinen Vorstellungen in den Kommunen nur offene Türen erwarteten. Doch der Landrat Dieter Patt (mehr), selbst Künstler, wusste um den nachhaltigen Wert von Kunst, ihre Bedeutung als Standortfaktor und stellte die politischen Weichen. Es entstand die Vision, aus der Militäranlage einen Kulturhotspot für experimentelle Architektur ohne Denkverbote zu formen. Der „offene Versuch“, von dem Müller immer gerne sprach, wenn es um die Insel Hombroich ging, sollte auch für die Raketenstation gelten. Er erwarb 1994 die ehemalige Raketenbasis und begann mit der Umwidmung. 

 

Stahlplastiken „Stahl kochen ist Kunst“, Anatol Herzfeld, rechts drei Kokillen auf Sockel 300 x 600 x 320 cm; links Stahlpfanne auf Sockel 650 x 600 x 500 cm, jeweils auf den massiven Betonfundamenten ehemaliger Abschussanlagen. Foto © rheinische ART 2022

 

Die Idee war eine Verbindung beider Areale unter dem Leitmotiv: Kunst parallel zur Natur. Schon 1995 entstand auf dem Ex-Militärterrain das „one-man-house“, ein Gästehaus für Literatur nach Entwürfen des japanischen Malers und Skulpteurs Katsuhito Nishikawa (*1949) und des Düsseldorfer Kunst-Professors Oliver Kruse (*1965). Erwin Heerich, der bereits für die spektakulären Bauten auf der Museumsinsel verantwortlich zeichnete, setzte auch hier mit seinen skulpturalen Gebäuden Maßstäbe.

 

Äußere Umgestaltung einer Bunkeranlage: „Die Tafelrunde“, Kunst parallel zur Natur. Foto © rheinische ART 2022

  

In den Jahren 1996/1997 wurde die Raketenstation in den Besitz der zwischenzeitlich gegründeten „Stiftung Insel Hombroich“ überführt; seither bilden diese beiden „Kulturorte“ zusammen mit dem verbindenden Kirkeby-Feld den heute als „Kulturraum Hombroich“ bezeichneten, sehr speziellen und international viel beachteten kulturellen Kristallisationspunkt im Rheinland.

 

Haus für Musiker vom Architekten Raimund Abraham © Foto Stiftung Insel Hombroich, Tomas Riehle

 

Das ehemalige Militärgelände präsentiert sich schon seit Jahren als Plattform für architektonische Denkmodelle wie beispielsweise den Siza-Pavillon als Ausstellungshaus (mehr) oder das Musikerhaus von Raimund Abraham (mehr) und ist mit Ateliers Arbeitsstätte und Heimat für Künstler.

     Weitere architektonisch ungewöhnliche Gebäude und Einrichtungen bestimmen heute das Bild. 1999 war der erste Bauabschnitt des Tadao-Ando-Projektes der Langen Foundation (selbständiger Partner der Stiftung), die betonierte Eingangswand, fertig. In schneller Folge wurden die Baumüller-Skulptur, das Hofmann Lehmhaus, der Fontana-Pavillon, Seminargebäude und Gästewohnungen nach Entwürfen von Erwin Heerich (mehr) installiert.

 

Die Langen Foundation vom Architekten Tadao Ando © Foto Langen Foundation, Tomas Riehle

 

Markante Landmarke ist seit der Jahrtausendwende die 15,20 Meter hohe Betonskulptur „Begiari“ des baskischen Bildhauers und Zeichners Eduardo Chillida (1924–2002). Sie säumt den Weg zum unterhalb der Raketenstation in der Erftaue liegenden „Museum Insel Hombroich“.

 

Immer stärker tritt die ehemalige Militärbasis als „künstlerisches Biotop“ – als Ort einer visionären Parallelentwicklung von Kultur und Natur – international in Erscheinung, zieht aus aller Welt stammende Kunstinteressierte und Künstler unterschiedlicher Disziplinen in ihren Bann.

cpw

 

Mit der Abrüstung im Zuge des „Washingtoner Vertrags über nukleare Mittelstreckensysteme“ (INF-Vertrag) ab 1984 verlor das Raketensystem Nike-Hercules an Bedeutung. Die Luftwaffe stellte 1989 das letzte FIaRak-Bataillon 26 in Wangerland (Landkreis Friesland) außer Dienst. Das Waffensystem ist heute Exponat im Militärhistorischen Luftwaffenmuseum der Bundeswehr in Berlin Am Flugplatz Gatow 33.


Stiftung Insel Hombroich
41472 Neuss
Tel. 02182 / 8874000

 

Raketenstation Hombroich
Öffnungszeiten
Täglich 10.00 – 18.00 Uhr

 

Museum Insel Hombroich
Minkel 2,
41472 Neuss
Öffnungszeiten
Täglich 10.00 – 17.00 Uhr

 

 

Die 
rheinische ART.
empfiehlt:

Mit GOOGLE ins Museum.


Das Google Arts & Culture Projekt zeigt Meisterwerke aus den Museen und Sammlungen dieser Welt.

► 
mehr

Und geht der Frage nach: Was ist Contemporary Art?

mehr