Archiv 2016
RADIO-NOSTALGIE
Schneewittchensarg und
Goebbels-Schnauze
Vor 120 Jahren gelang in London die erste drahtlose Tonübertragung an eine Empfangsstation. Das Jahr 1896 steht damit für den Beginn der Radio-Zeit und gut zwei Jahrzehnte später begann der Kult um die Empfangsapparate.
Norman Bel Geddes Model 400-1; -2; -3 Patriot, Emerson Radio and Phonograph Corp., New York City, New York (US), 1940, MAKK, Foto: © RBA Köln, Marion Mennicken |
Aus klobigen Röhrengeräten und voluminösen Musikkästen wurden zunehmend Design-Ikonen. Das Kölner Museum für Angewandte Kunst (MAKK) zeigt anlässlich des Rundfunkjubiläums in einem Rückblick, wie rasant und zeitgenössisch-kreativ sich die Formgebung von Radios entwickelte und der Rundfunk das erste Massenmedium wurde.
Die Design-Ausstellung „RADIO Zeit – Röhrengeräte, Design-Ikonen, Internetradio“ reflektiert die Entwicklungsschritte - beginnend in den 1920er Jahren - und ist ein Blick in die Welt der alten Radios.
Wells Coates Ekco AD 65, 1932, Erik Kirkham Cole Limited, Southend-On-Sea (GB), 1934, MAKK, Foto: © Saša Fuis Photographie, Köln
Walter Dorwin Teague Sparton 566 Bluebird, Sparks-Withington Company, Jackson, Michigan (US), 1935-36, MAKK, Foto: © Saša Fuis Photographie, Köln
Ray & Charles Eames 6 D 030 Z, Evans für Zenith Radio Corp., Chicago, Illinois (US), 1946, MAKK, Foto: © RBA Köln, Marion Mennicken
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MAKK-Sammlung Mit über 230 Radios und Kombinationsanlagen ist die MAKK-Sammlung eine der umfangreichsten in Deutschland. Vor allem die aus der Stiftung des Bonner Architekten Richard G. Winkler stammenden US-Geräte der 20er bis 50er Jahre, die als Spitzenexponate des Radiodesigns gelten, sind selbst im europäischen Maßstab Raritäten.
International namhafte Gestalter hatten sich des Radiodesigns angenommen. Zu den Großen und in der Schau vertretenen Kreativen gehören der für seine Stromlinien berühmte Industriedesigner Norman Bel Geddes, der Kanadier Wells Coates, das Designer- und Künstlerpaar Ray & Charles Eames; ferner unter anderen Fritz Eichler (Braun AG), Achille & Pier Giacomo Castiglioni, Raymond Loewy, Dietrich Lubs, Verner Panton, Richard Sapper, Philippe Starck sowie Walter Dorwin Teague und Marc Berthier, Schöpfer des minimalistischen Designklassikers Lexon Tykho Radio.
Die MAKK-Sonderausstellung präsentiert eigene Kollektionsteile, erweitert um 50 Leihgaben und historische Fotografien aus dem Kölner WDR-Archiv.
Digitalisierung Seit Jahren schon stellt sich die Branche angesichts Digitalisierung, Internet und Musik aus dem Computer die Frage, ob das Radio noch Radio im klassischen Sinne ist und lebensfähig bleibt. Tot sind Rundfunk und Radioempfänger natürlich nicht! Allerdings ändert sich im digitalen Zeitalter der Smartphones, Tablets und des Internets das Gerät, mit dem der Rundfunk empfangen werden kann.
Die Schau verdeutlicht, welche wechselhafte Stil-Geschichte die Radiogehäuse durchliefen: von puren Komponenten - bei denen die Technik alles, aber die Form eher unwichtig war - über hölzerne Kisten, dunkle Klangkästen und leuchtende Designobjekte bis zur opulenten Musiktruhe, zu kultigen Kombi-Geräten und winzigen Spaßapparaten. Es ist alles vorhanden und bestens geeignet, den Designfan in Radio-Nostalgie versinken zu lassen.
Pionierzeiten Nach seiner Premiere brauchte das Radio bis zur Massentauglichkeit in Deutschland noch gut zwei Jahrzehnte, wie die Ausstellung erkennen lässt. Radio hören, das war für den deutschen Normalbürger anfänglich eine teure, ja fast unerschwingliche Angelegenheit. Erster Weltkrieg und Weltwirtschaftskrise hatten tiefe ökonomische Spuren hinterlassen. 1923 gab es die erste Rundfunksendung aus Berlin und bis 1933 stieg die Zahl der Radiobesitzer im Deutschen Reich auf vier Millionen. Aber selbst unter Einrechnung mithörender Familienmitglieder erreichte der Rundfunk kaum 16 Millionen Hörer und damit nur knapp ein Viertel der Gesamtbevölkerung.
Walter Maria Kersting Röhrenradio „Volksempfänger“, Typ VE 301, ab 1933, verschiedene Hersteller. Bis 1939 wurden 12,5 Millionen Exemplare des einfachen Apparates verkauft. Foto © Wikipedia
Verteilung von 500 Kleinempfängern DKE38 ("Goebbels-Schnauze") im Oktober 1938 anlässlich von Goebbels’ 41. Geburtstag im Berliner Funkhaus. Foto© Bundesarchiv, Bild 183-H14243 / Nau / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de
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Radio für Massen Den Durchbruch brachte das auf der 10. Berliner Funkausstellung im August 1933 vorgestellte erste Massenradio, der „Volksempfänger“ VE 301. Sein schlichtes Design ermöglichte ein neuer, vollsynthetischer Werkstoff namens Press-Phenolharz. Ein robuster, biegsamer und hitzebeständiger Kunststoff, der auch Bakelit genannt wurde.
Die Typenbezeichnung VE 301 war eine NS-Erfindung. Sie erinnerte an den 30. Januar 1933, dem Tag von Hitlers Ernennung zum Reichskanzler. Das billig hergestellte Mittelwellengerät wurde im Auftrag des „Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda“ Joseph Goebbels entwickelt und für die NS-Politik zum wichtigsten Propagandawerkzeug. VE 301 bahnte, wie es oft hieß, Hitler den Weg in die deutschen Wohnzimmer.
Der „Volksempfänger“, gerne auch Gemeinschaftsempfänger genannt, war ein schnörkelloser Apparat in einem Bakelit-Kasten. Sein progressiver Stil war der „Neuen Sachlichkeit“ im Sinne des Deutschen Werkbundes und damit dem Zeitgeist zuzuordnen (mehr).
Die Form kreierte bereits 1928 der Industriedesigner Walter Maria Kersting (1889-1970). Kersting war von 1927 bis 1932 Professor für künstlerische und technische Formgebung an den Kölner Werkschulen. Das Kunstinstitut war eine höchst renommierte Einrichtung und eine der ersten Ausbildungsstätten für Formgestalter (mehr). Die Geburtsstunde des „Volksempfängers“ schlug also am Rhein, wenigsten in gestalterischer Hinsicht. Das Radio zum Preis von 76 RM (Reichsmark) verkaufte sich in Millionen Stückzahlen. Produziert wurde es unter strikter staatlicher Regie und Auftragszwang von namhaften Elektrounternehmen, so etwa von Telefunken, Blaupunkt und Loewe.
DKE 38 1938 wurde ein weiteres „Volksgerät“ auf den Markt gebracht, der mit 35 RM weniger als halb so teure und damit auch für den ärmsten Volksgenossen erschwingliche „Deutsche Kleinempfänger DKE 38“. Ein quadratisches Kleingerät aus schwarzem Bakelit und mit simpler Röhrentechnik, mit dem das NS-Regime einen klaren Propadanda-Kurs verfolgte. Das wurde weiten Bevölkerungskreisen schnell klar. Im Volksmund hieß der Apparat daher alsbald „Goebbels-Schnauze“, wegen der Radio-Omnipräsenz des Propagandaministers.
Hans Gugelot, Dieter Rams Phonosuper SK 5 „Schneewittchensarg“, Max Braun oHG, Frankfurt a.M. (DE), 1958, MAKK, Foto: © RBA Köln, Marion Mennicken |
Verner Panton Wega Stereobar 3300, Wega Radio GmbH, Fellbach (DE), 1970, MAKK, Foto: © Saša Fuis Photographie, Köln
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Nachkriegs-Radios Ab 1945 setzte in Deutschland eine neue Gestaltungswelle ein. Ob Tischradios, Radio-Phono-Kombinationen, Musikschränke, Taschen- oder Kofferempfänger. Bedeutende Persönlichkeiten namhafter Werkstätten, Gestaltungsinstitute und Kunsthochschulen widmeten sich der äußeren Form. Darunter Wilhelm Wagenfeld, Hans Gugelot, Dieter Rams und Herbert Hirche für die Braun AG in Kronberg/Taunus. Auf Gugelot und Rams geht zum Beispiel der legendäre Entwurf des Braun SK 4 „Schneewittchensarg“ und seiner Folgemodelle zurück, eine Radio-Plattenspieler-Kombination mit dem seinerzeit neuen Werkstoff Acryl als Abdeckhaube. Das zeitlose Design des Geräts fällt noch heute auf.
Dem speziell an Radiodesign und Funkunterhaltung interessierten MAKK-Gast kommt das museale Arrangement entgegen. Denn die in 20 Kapiteln chronologisch angelegte Präsentation erlaubt einen klaren Blick auf die historische Radio-Formgebung und vermittelt darüber hinaus mit zeittypischem Mobiliar und charakteristischen Rauminszenierungen vertiefende Einblicke in die Wohn- und Lebenswelt vergangener Jahrzehnte. Hörstationen mit historischen Aufnahmen aus den Archiven der Rundfunkanstalten liefern interessantes Hintergrundwissen auch zu einzelnen Designern.
cpw
► Der Deutsche Kleinempfänger 38 fand Eingang in die Kunst. 1975 bildete die Düsseldorfer Band Kraftwerk (mehr) den DKE 38 auf dem Plattencover ihres fünften Studioalbums „Radio-Aktivität“ ab.
Die Ausstellung „RADIO Zeit – Röhrengeräte, Design-Ikonen, Internetradio“ läuft bis zum 5. Juni 2016.
MAKK
Museum für Angewandte Kunst Köln
An der Rechtschule
50667 Köln
Tel 0221 221 267 35
Öffnungszeiten
DI-SO 11-17 Uhr
1.Sonntag im Monat 10-17 Uhr
1.Donnerstag im Monat 11-22 Uhr