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rheinische ART 05/2024

GELESEN
Pionier der Visualisierung


Vor vier Jahren wurde an die Erfindung der bildhaften Statistiken vor 100 Jahren erinnert. Ihr Protagonist war der Wiener Nationalökonom und Grafiker Otto Neurath.

 

Beispiele für bildhafte Statistik zum Thema: Weltreiche. Bildquelle © Modern Man in the Making. Facsimile edition 2024, S. 24 und 25.

 

Wer zum Jubiläumsdatum die bahnbrechenden grafischen Darstellungen, die heute gerne Icons (aus dem Griechischen und bedeutet Bild) genannt werden und die aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken sind, ihrem Urheber nicht zuordnen konnte oder eine der raren Ausstellungen – etwa jene im Dürener Leopold Hoesch Museum – verpasste (mehr), findet derzeit eine interessante bibliophile Ergänzung.

 

Buchcover Lars Müller Publisher Modern Man in the Making Otto Neurath, Foto © Lars Müller Publishers 2024

 

Der Schweizer Lars Müller Verlag hat einen Faksimile-Nachdruck von Otto Neuraths berühmten Buch Modern Man in the Making von 1939 herausgebracht. Diese ebenfalls in Englisch gehaltene Ausgabe von „Der moderne Mensch im Werden“ ist eine nicht nur für Fachleute überaus interessante wie auch bereichernde Lektüre.

     Otto Neurath (1882-1945) war in den Zwanziger- und Dreißigerjahren eine der berühmten Persönlichkeiten im sogenannten „Roten Wien“, jener politischen Zwischenkriegsphase in der österreichischen Hauptstadt, in der die Sozialdemokratische Arbeiterpartei die absolute Mehrheit hatte und die monarchistisch orientierte Wiener Christlichsoziale Partei übertrumpfte.

 

Otto Neurath studierte Mathematik, Ökonomie, Geschichte und Philosophie und engagierte sich in seiner Heimat Wien im sog. Austromarxismus. 1934 emigrierte er in die Niederlande, später nach Großbritannien. Bildquelle © Noord-Holland Archieef/ Vienna Circle Archive

 

Der vielseitig interessierte wie auch versierte Wissenschaftler Neurath vertrat die Ansicht, dass mit einer modernen Bildsprache – die er als „Wiener Methode der Bildstatistik“ bezeichnete – eine Demokratisierung des Wissens und damit einer Stärkung der Demokratie erreicht werden könnte.

     Der Neurath-Biograf und Politikwissenschaftler Günther Sandner brachte es auf den Punkt. „Die Bildstatistik sollte die Unterschiede im Bildungsniveau ausgleichen, indem sie der Arbeiterschaft Einblicke in soziale und ökonomische Zusammenhänge“ ermöglichen würde (Weiteres zur Vita von Otto Neurath siehe Welt-Emoji-Tag mehr).

     

Neuraths damals völlig neuartige, innovative Schrift Modern Man in the Making wurde erstmals 1939 von Alfred A. Knopf veröffentlicht und erfasste und beschrieb den Zustand der Welt in jener Zeit. Also die globalen Verhältnisse in den Dreißigerjahren und dies mithilfe von ergänzenden Texten und ästhetisch ansprechenden, figurativen und colorierten Illustrationen.

     Bereits ab 1925 hatten Neurath und sein Team an einer neuen Bildsprache gearbeitet und sich mit Fachleuten aus dem Dokumentationswesen, wie etwa dem belgischen Mundaneum-Gründer Paul Otlet (mehr), verständigt und ausgetauscht. Immerhin war die Verbindung zu Otlet so intensiv, dass Neurath und das Wiener Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum 1931 eine Dependance des Mundaneums in der österreichischen Hauptstadt gründeten. Neuraths Bildsprache hatte darüberhinaus auch Interesse bei dem seinerzeit schon berühmten Architekten und Designer Le Corbusier ausgelöst (mehr).

 

Beispiele für bildhafte Statistik zum Thema: Das Becken des Mississippi und seiner Nebenflüsse sowie das Überschwemmungsgebiet in der Nähe der Mississippi-Mündung und seine Bevölkerung. Bildquelle © Modern Man in the Making. Facsimile edition 2024, S. 104 und 105.

 

Seine neue Bildsprache nannte Neurath „ISOTYPE“ (International System of Typographic Picture Education). Dies passierte in den zwei Jahrzehnten, in denen neue Massenmedien aufkamen und bisher undenkbare Mengen an Informationen verfügbar machten. Der Wiener Wissenschaftler hatte das Bedürfnis nach einer systematischen Visualisierung, die Fakten, statistische Daten und Vergleichszahlen auf einfache Weise erklärt. Mit seinem Buch verdeutlichte er seine Überlegungen. Die darin publizierten Schaubilder, Diagramme oder Landkarten können als eine der einflussreichsten Vorläufer der heute allgegenwärtigen Infografiken angesehen werden.

 

Beispiele für bildhafte Statistik zum Thema Roheisenproduktion. Bildquelle © Modern Man in the Making. Facsimile edition 2024, S. 74

 

Otto Neurath sah seine Aufgabe darin, die „grundlegenden Trends im sozialen, politischen und wirtschaftlichen Leben der Menschheit“ zu analysieren. Die im Buch behandelten Themen umfassen daher verschiedene soziale Themen der Zeit wie Sterblichkeit, Gesundheit, Beschäftigung, Handel, Bildung, Mobilität, Migration und Demografie. Modern Man in the Making zeigt Neuraths demokratisches Bestreben, Wissen für alle verständlich und verfügbar zu machen.

     Es ist eine Erinnerung an die Fähigkeit der Grafik, zu informieren und Kontexte zu schaffen, anstatt nur rein ästhetische Qualitäten zu präsentieren, wie der Verlag ergänzend erklärt.

     Das Buch hat Generationen von Designern inspiriert und zu Nachahmungen und Weiterentwicklungen geführt. Das Anfang des Jahres neu aufgelegte historische Bild-Text-Buch erscheint als Nachdruck in einer Zeit, in der neue Medien immer mehr dazu nötigen, komplexe Daten in leicht verständliche Darstellungen zu zerlegen.
rART/cpw

 

Der rheinische Grafiker Gerd Arntz, ehedem im Neurath-Team (siehe Link oben), entwickelte die bildstarken Piktogramme als Exilant in Den Haag weiter. Neuraths Ex-Mitarbeiter Rudolf Modley nutzte das Isotype-Erbe in den USA für seine erfolgreiche berufliche Weiterentwicklung als Informationsdesigner.

 

Literaturhinweis:
Lars Müller Publishers. Otto Neurath, The Modern Man in the Making. Sprache: Englisch. 160 Seiten, gebunden. Format 27,4 x 22 cm. Facsimile edition published in 2024 by Lars Müller Publishers. Lars Müller Verlag Zürich, Schweiz, 2024. Originally published in 1939 by Alfred A. Knopf, New York. ISBN/EAN 9783037786765, Preis 60 Euro

 

 

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