Archiv 2015
NAIVE
Der Schatten der Avantgarde
Schon ihre Benennung hört sich mißverständlich an. „Naive“, „Outsider“. Die sprachliche Begrifflichkeit der Kunstgeschichte hat sie ins Abseits befördert. Sie gehören nicht „dazu“, zur vielgerühmten Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts - keine Kennerschaft, keine Könnerschaft. Ein hartes Urteil.
DAS BILD WURDE AUS ©GRÜNDEN ENTFERNT.
Morris Hirshfield (1872-1946), Girl with Pigeons, 1942, Mädchen mit Tauben, Öl auf Leinwand, 76,1 x 101,7 cm / The Sidney and Harriet Janis Collection, The Museum of Modern Art, New York © VG Bild-Kunst, Bonn 2015 © Foto: SCALA, Florence, 2015 |
Doch diese Sichtweise auf die „Naiven“ erfährt mit der Schau „Der Schatten der Avantgarde“ im Essener Folkwang Museum keinerlei Bestätigung. Ganz im Gegenteil. Die „Naiven“, die „Outsider“, sie gehören dazu, sind Teil der Moderne, ist die Botschaft. Sie sind anders, ja, nicht besser, aber auch nicht, was oft vermutet wird, gar schlechter.
Die Ausstellung führt quasi öffentlich den Beweis ihrer Ansage und tut dies mit starker, intensiver, „naiver“ Kunst. Es mögen ungewohnte Bilder für den Laien sein, was auch daran liegen mag, dass diese Künstler wenig gezeigt werden. Mit Ausnahme natürlich des großartigen Henri Rousseau, dessen Dschungelbilder international begeisterte Zustimmung erfahren. Seine Anerkennung ist es, die ihn in den viel versprechenden zweiten Titel der Schau hat Eingang finden lassen: „Rousseau und die vergessenen Meister“.
Henri Rousseau (1844-1910) Le lion, ayant faim, se jette sur l'antilope, 1898/1905, Der hungrige Löwe wirft sich auf die Antilope, Öl auf Leinwand, 201 x 301,5 cm © Fondation Beyeler, Riehen/Basel, Sammlung Beyeler, Foto: Robert Bayer, Basel |
Der Besucher der Ausstellung sollte wissen, dass der Begriff „Naive“ nicht dilettantisch meint, sondern „aus sich selbst heraus“. Die Naiven, sie haben keine akademische Ausbildung in der Kunst genossen, sind also keine Berufskünstler. Viele dieser Autodidakten fanden auch erst im fortgeschrittenen Alter zur Kunst. Die Moderne ist geprägt vom Übergang der streng akademischen Malerei hin zu einem anderen, freieren Duktus, einer neuen Bildauffassung. Über die revolutionäre Ausstellung „1912 – Mission Moderne“ in Köln (mehr) redet man im Rheinland noch heute. Doch die Strömung begann viel früher und natürlich in der damaligen Kunsthauptstadt Paris. Gustav Moreau (mehr) mag hier ein beredtes Beispiel sein.
DAS BILD WURDE AUS ©GRÜNDEN ENTFERNT.
Camille Bombois (1883-1970), Athlète forain, um 1930, Jahrmarktartist, Öl auf Leinwand, 130 x 89 cm / Centre Pompidou, Paris, Musée national d'art moderne/Centre de création industrielle © VG Bild-Kunst, Bonn 2015 © Foto: bpk
Bill Traylor (1854-1949) Untitled (Blue Man on Red Object), ca. 1939 – 1942, Ohne Titel (Blauer Mann auf rotem Objekt), Plakatfarbe und Bleistift auf Karton, 29,8 x 19,7 cm, High Museum of Art, Atlanta, Georgia, purchase with funds from Mrs. Lindsey Hopkins Jr., Edith G. and Philip A. Rhodes, and the Members Guild © Foto: Mike Jensen
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Die Ausstellung geht nun auch der Frage nach, ob die Avantgardisten und die Naiven mehr als nur die Zeit teilten. Die Kunsthistorie hat längst wissenschaftlich festgestellt, dass es nicht nur weitreichende Kontakte, Freundschaften, untereinander gab, sondern dass die Berufskünstler auch sehr oft von den Werken der Naiven inspiriert wurden. Aus diesem Grund sind den 13 Naiven in der Schau Schlüsselwerke aus Moderne und Gegenwartskunst aus der Sammlung Folkwang zur Seite gestellt.
Die Inszenierung der Werke greift in einer Ausstellungsarchitektur, die den großen Künstlern Henri Rousseau, Morris Hirshfield, Adalbert Trillhase wie Séraphine Louis jeweils eigene Räume zuweist, versehen mit Durchbrüchen, die den Besuchern Blicke in die weitere Ausstellung gestatten und so eine Vielfalt an Perspektiven schaffen. Einen prominenten Platz erhielten und sind deshalb besonders hervorzuheben die Arbeiten "Ecce Homo" (1851) von Honoré Daumier, "Barbarische Erzählungen" (1902) von Paul Gaugin und das "Selbstbildnis mit Kamelienzweig" (1906/07) von Paula Modersohn-Becker.
Insgesamt werden über 200 Werke gezeigt. „In der Zusammenschau werden die ungewöhnlichen Bilder und Skulpturen der Autodidakten lesbar als ständige Begleiter der Avantgarde, die unser Bild der Kunst des 20. Jahrhunderts bereichern und vertiefen“, vermeldet das ausstellende Haus. Eine nach eigenen Worten „Inside Naive“- Kunsthistorikerin schrieb unserer Redaktion dazu sehr direkt: „Wir, die 'Naiven', haben einige Maler immer schon als 'Schatten der Avantgarde', besser - als unentbehrliche Voraussetzung für die 'Hochkunst' - bewertet, ist nur dem breiten Publikum entgangen. Um so mehr: Gratulation!“
Über die Kunst der Naiven schreibt das Folkwang (Auszug): „Einzig Henri Rousseau, von dem insgesamt acht Dschungel-Bilder und Portraits zu sehen sind, gilt auch als nicht-akademischer Künstler als eine feste Größe für die Beschäftigung mit der Moderne. Aber auch die spektakulären und zugleich beunruhigenden Blumenbilder von Séraphine Louis, deren sechs übergroße Bilder hier erstmals vereint werden, und die Historiengemälde von André Bauchant, die von Künstlern der Stunde hoch geschätzt wurden, gehören zu jener historischen Konfiguration, die als Moderne bezeichnet wird.
Séraphine Louis (1864-1942) La Séraphine bleue, um 1930, Die blaue Séraphine, Ripolin auf Leinwand, 146,2 x 114 cm © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Elke Walford |
Die Skulpturen von William Edmondson waren die ersten Werke eines AfroAmerikanischen Künstlers, die schon 1937 in einer Einzelausstellung des Museum of Modern Art, New York, gezeigt wurden. Und Adalbert Trillhaase, dessen maßgebliche Hauptwerke in der Ausstellung versammelt sind, war gemeinsam mit Künstlern wie Max Ernst und Otto Dix ein Mitglied des Künstlerkreises um die Düsseldorfer Kunsthändlerin Johanna Ey (mehr).“
► Die ausgestellten Naiven sind: André Bauchant, Erich Bödeker, William Edmondson, Louis Michel Eilshemius, Morris Hirshfield, Séraphine Louis, Nikifor, Martín Ramírez, Henri Rousseau, Miroslav Tichý, Bill Traylor, Adalbert Trillhaase (mehr) und Alfred Wallis.
► Kuratiert wurde die Schau von Kasper König und Falk Wolf.
ruwoi
Die Ausstellung "Der Schatten der Avantgarde - Rousseau und die vergessenen Meister" ist bis zum 10.01.2016 zu sehen.
Museum Folkwang
Museumsplatz 1
45128 Essen
Tel. 0201 / 8845 444
Öffnungszeiten
DI + MI 10 – 18 Uhr
DO + FR 10 – 20 Uhr
SA + SO 10 – 18 Uhr