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rheinische ART 05/2018

Archiv 2018

KULTUR UND KOLKATA

„City of Joy”?

 

Indiens Megametropole Kolkata, bis 2001 Kalkutta genannt, ist ein Kulturzentrum ersten Ranges, ein Treffpunkt für Intellektuelle und Kunst-Avantgardisten. Das bleibt den meisten der eher raren Besucher oft verborgen.

 

Wahrzeichen und technische Meisterleistung: Die Howrah-Bridge (Rabindra Setu Bridge), erbaut 1943. Die Stahl-Fachwerkkonstruktion über den Hooghly-River ist täglicher Verkehrsweg für rund 500.000 Fußgänger und Hunderte Busse. Foto © rheinische ART 2018

 

Das Image der westbengalischen Hauptstadt, deren Einwohnerzahl mit rund 17 Millionen angegeben wird und vermutlich eher weit über 20 liegt, ist nicht das Beste.

 

Ghat für rituale Reinigungen am Hooghly-River in Kolkata Foto © rheinische ART 2018

 

Es ist ja wahr: In Indiens drittgrößter Stadt leben die meisten Menschen noch immer in Armut und unter elenden Bedingungen. Nördlich der City sind Slums und Ghettos unübersehbar – selbst wenn vieles besser wurde und eine relativ gutsituierte Mittelschicht existiert.

     Gebettelt wird gelegentlich, nicht immer um Geld, manchmal schlicht um Milchpulver; es mangelt an Hygiene, Wohnraum, Geburtenkontrolle. Und das Kastenwesen treibt ganze Bevölkerungsteile ins gesellschaftliche Abseits.

     Der Verkehr ist ein Gewühl aus Rikschas, gelben Ambassador-Taxis, Lkw, asiatischen Kleinwagen und dem einen oder anderen SUV oder Edel-Mercedes. Für westliche Augen ist das alles chaotisch und lebensgefährlich, trotz moderner Metro, antiquierten Tata-Bussen und einer weitgehend veralteten und selektiv nutzbaren Straßenbahn. Immerhin: Kolkata betreibt das einzige umweltfreundliche Tram-System auf dem ganzen Subkontinent.

 

Zur Verfestigung des dumpfen Bildes einer nicht steuerbaren Müll-, Armuts- und Siechenmetropole trugen namhafte Personen bei. Die albanisch-stämmige Ordensschwester Mutter Teresa (1910–1997) ebenso wie der deutsche Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass (1927–2015). Der stellte einmal radikal fest: „Ein Haufen Scheiße, wie Gott ihn fallen ließ und Kalkutta nannte“. Dennoch lebte er dort ein halbes Jahr und verfasste Teile von „Der Butt“ und später den Lyrik- und Prosaband „Zunge zeigen“, der nicht zu seinen Spitzenwerken gerechnet werden kann. Selbst Indiens Premier Rajiv Gandhi (1944-1991), Sohn der legendären Indira Gandhi, sprach in den Achtzigerjahren noch von einer „sterbenden Stadt“.

 

Ruheoase in der hektischen Innenstadt: South Park Street Cemetery. Der alte Friedhof aus der englischen Kolonialzeit erzählt vieles über 200 Jahre British-Indien. Foto © rheinische ART 2018

 

Einiges hat sich seither geändert. Und es gibt eben auch eine völlig andere Seite Kolkatas, eine strahlende, quirlige, hochkreative. Die Stadt gilt seit jeher als wichtigstes kulturelles Zentrum Indiens. Zahlreiche Künstler, die die soziale und literarische Landschaft Indiens prägten und noch prägen, stammen von hier. Das koloniale Kalkutta mit seiner Volkskunsttradition war im 19. Jahrhundert Standort der ersten Kunstschule des Landes, die wie ein Labor für das Verschmelzen indischer und westlicher Kunstpraktiken wirkte.

     Vermutlich ist es das, was die Bewohner dieser sich endlos erstreckenden, mit einem einzigartigen Architektur-Mix ausgestatteten Kapitale des früheren Britisch-Indien dazu verleitet, sie als „Stadt der Freude“ zu bezeichnen. Ein Titel, der dem gleichnamigen Roman von Dominique Lapierre entstammt, ein Kalkutta-Bestseller.

     Vor rund 25 Jahren wurde er auch für ein Kinodrama verwendet. Die Story: Ein zynischer und frustrierter US-Chirurg namens Dr. Max Lowe, gespielt von Patrick Swayze, findet in dieser „City of Joy“ neue Lebenskraft und setzt sich für die Mittellosen in einem Armenviertel ein. Untermalt wird das bildstarke Drittwelt-Drama mit Musik des Oskar-prämierten Ennio Morricone.

 

Omnipräsent im Stadtbild: Swami Vivekananda. Statue und gleichnamiges Museum. Foto © rheinische ART 2018

 

Die Kulturszene Kolkatas war und ist nach wie vor verblüffend vielseitig. Es existieren fast drei Dutzend Museen. Vom universalen Indian Museum, 1814 gegründet und damit das älteste Schauhaus in ganz Asien, sowie dem Spezialmuseum des hinduistischen Mönchs Swami Vivekananda bis hin zum Netaji („Führer“) Subhash Chandra Bose Gedenkmuseum in dessen Geburtshaus.

 

Rikschafahrer vor dem Eingang zum Marble Palace Foto © rheinische ART 2018

 

Indian Coffee House Der unscheinbare Eingang führt in ein altes Kaffeehaus, das traditionell von Studenten und Intellektuellen besucht wird. Foto © rheinische ART 2018

 

Buchladen nahe der College Street. Foto © rheinische ART 2018

 

Kunst aus Europa in skurrilen Kombinationen aus Antiquitäten, Statuen, Glas und Gemälden – darunter Rubens, Tizian und Gainsborough – ist im imposanten, privaten Marble Palace (Marmorpalst) versammelt und kann für wenige Rupien temporär besichtigt werden.

     Dutzende von Galerien offerieren bengalische Kunst. Mehr als 30 Bühnen und Theater zeigen regelmäßig Aufführungen und die Filmindustrie boomt. Kolkata ist der Hort des indischen Autorenfilms, der als intellektuelle Variante konträr der bunten und schreienden Bollywood-Filmwelt von Mumbai (Bombay) gegenübersteht.

     Wie weltweit sonst nirgendwo hat sich in der Stadt eine ungeheure Buchhändler-Szene entwickelt. Über 10.000 Bouquinisten entlang der College Street und in deren Nebengassen bieten Lese- und Lehrstoff an. Darunter auch ins Bengalische übersetzte deutsche Klassiker.

     Legendärer Treffpunkt für Leser, bildende Künstler, Dichter und andere Kreative ist in diesem Quartier das Indian Coffee House. Wer sich darauf einlässt, erlebt so manche positive Überraschung.

     Und die große Indische Nationalbibliothek im gepflegten Süden Kolkatas hält über 9 Millionen Publikationen und ein Zeitungsarchiv vor, das internationale Standards erfüllt. Es funktioniert vorbildlich.

     Stolz verweisen die Bewohner stets auf all jene Persönlichkeiten, die aus ihrer Stadt stammen. Auf den Literaten und Nobelpreisträger Rabindranath Tagore zum Beispiel, auf den Physiker Satyendranah Bose, den Hindu-Mönch und Gelehrten Swami Vivekananda oder den Filmregisseur und Oscar-Preisträger Satyajit Ray.

 

Allerdings herrscht in Sachen Museums-Szenerie derzeit Stillstand. 2013 wurde der Grundstein für ein neues, spektakuläres Museum gelegt. KMOMA oder Kolkata Museum of Modern Art lautet sein Name. Es ist Teil eines Kulturzentrums im expandierenden Stadtteil Rajarhat (Salt Lake City) zwischen dem Airport und der City.

     Das Zentrum soll sich zu einem Magneten für Kunstkenner, -liebhaber und den professionellen Kunsthandel sowie für den innerindischen und globalen Tourismus entwickeln.

 

Moderne Architektur für ein gewaltiges Kulturerbe: Das geplante Kolkata Museum of Modern Art (KMOMA). Die schachtelartige Konstruktion greift die Formensprache indischer Tempelanlagen auf. Foto (Animation) © Herzog & De Meuron (HDM), Basel, 2013

 

Doch gebaut wurde bislang nichts. Man errichtete zwar alles Mögliche, kommentiert ein namhafter Architekt der Stadt, exklusive Shopping Malls etwa, neue Metroabschnitte oder ein 200 Meter hohes Apartmenthaus. Aber beim KMOMA gehe es nicht vorwärts.

     Dabei besteht in der Tat Not an der Einrichtung. KMOMA soll eine Lücke in der kulturellen Infrastruktur schließen. Denn es gibt in Westbengalen noch kein Museum, das mit hochmodernen Einrichtungen alle Aspekte des Bewahrens, Erforschens, Präsentierens und Dokumentierens von Kunst leisten kann. Und schließlich ist das kulturelle Erbe des Gliederstaates – ob Theater, Musik, Tanz, Malerei, Fotografie, Bildhauerei oder Architektur – so vielfältig und komplex wie das Land selbst. Artefakte und historische Dokumente, die einen geschlossenen Blick auf das historische und neuzeitliche bengalische Kulturleben bieten, sind immer noch in verschiedenen Museen anderer Bundesstaaten untergebracht.
Claus P. Woitschützke

 

In Fachkreisen gilt das KMOMA als erstes Großprojekt, das seit Le Corbusiers Retortenstadt Chandigarh wieder von namhaften ausländischen Baumeistern gestaltet wird. Die Entwürfe stammen von den Schweizer Architekten Herzog & De Meuron (HDM). Es ist ihr erstes Engagement in Indien. Jüngst sorgten HDM durch Projekte wie das Pekinger Olympiastadion („Vogelnest“) oder die Hamburger Elbphilharmonie für Schlagzeilen.


 Subhash Chandra Bose (1897–1945) war indischer Freiheitskämpfer und Vorsitzender des Indischen Nationalkongresses (INC). Der oft fälschlich als Faschist titulierte Politiker, der 1942 in Berlin mit Hitler und Himmler zusammentraf, ist seit seines unaufgeklärten Todes 1945 eine grenzenlos verehrte Politikikone auf dem gesamten Subkontinent. Das Bose-Museum zeigt seine Lebensstationen. Am Eingang prunkt ein Pkw der Marke „Wanderer W24“ der Chemnitzer Auto Union (heute Audi) von 1940, mit dem Bose sein Flucht nach Europa antrat.

 

 

 

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