Archiv 2015
MUSÉE DES CONFLUENCES IN LYON
Kultur-Raumschiff oder Riesenkäfer?
Eine atemberaubende wie sonderbare Gebäude-Geometrie in Anlehnung an den dekonstruktiven Stil - das kennzeichnet das neue Museums von Lyon. Das futuristische Haus, eine Art Kultur-Arche mit über 2,2 Millionen Exponaten, ist eines der größten Naturkunde-Museen in Frankreich. Und eines der teuersten!
Das Musée des Confluences am Rhône-Ufer von Lyon-Perrache wurde mit der Auszeichnung "Musée de France" versehen. Der glänzende Komplex inmitten einer Industrielandschaft im Wandel ist als Naturkunde-Museum konzipiert und ist doch mehr als das. Die Zusammenschau der Kulturen will klären: Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir? Foto © Architekturbüro Coop Himmelb(l)au Wien 2015 |
Was sind das für Formen! Wie kann man so etwas realisieren? Seit Anfang des Jahres, nur rund drei Monate nach der Eröffnung des spektakulären Gehry-Glasbaus in Paris für die dortige Fondation Louis Vuitton und ihre zeitgenössische Sammlung (mehr), feierte die französische Architekturszene ein weiteres Bau-Schwergewicht.
Weitsicht Bei gutem Wetter bietet sich vom Dach des Museums ein weiter Blick auf die Fluss- und Stadtlandschaft der Metropole Lyon. Foto © Architekturbüro Coop Himmelb(l)au Wien 2015 |
Und dieses hockt dort wie ein undefinierbares Rieseninsekt aus Beton, Glas, Stahl und Holz, fließend und phantasievoll in seinen Formen. Der Name der Kultureinrichtung - „Museum der Zusammenflüsse“ - leitet sich aus eben dieser geografischen Lage ab und versteht sich gleichwohl auch als pädagogisches Programm: Das Museum ist ein naturhistorischer Schauplatz mit Dauerausstellungen vorzugsweise im Bereich Anthropologie und Ethnologie sowie wechselnden Schauen zu Wissenschaft, Gesellschaft und Technik.
Es sei kein Museum im klassischen Verständnis, betont Direktorin Hélène Lafont-Couturier. In ihrem Haus verschmelze Natur und Architektur zu einer Geschichte, die nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft erzähle. „Confluence“ – Zusammenfluss: hier von Wissen, Zeit und Raum zu einer Einheit, zu einem öffentlichen Tor des Wissens unserer Zeit, zum Universum!
Plakat zur Eröffnung des Museums, Gebäudeansicht von der Rhône aus. Das fast 300 Millionen Euro teure Gebäude wird von den Wiener Architekten "Coop Himmelb(l)au" mit einer Kristallwolke (Nuage de Christal) verglichen. Manche sehen darin eher ein Raumschiff. Foto © Musée des Confluences, Lyon 2015 |
Neue Form Das Konzept für den Lyoner Naturkunde-Palast stammt von dem internationalen österreichischen Architektenbüro „Coop Himmelb(l)au“, mit Büros in Wien, Peking und Los Angeles. Eine Bau-Schmiede, die für extrem ungewöhnliche und unkonventionelle Ideen berühmt und dem eigenen Leitspruch „Architektur muss brennen!“ verpflichtet ist. Das funktioniert seit 1968, also seit fast fünf Jahrzehnten, und hat die Bau-Kooperative zu einem der erfolgreichsten Global-Player der Branche gemacht.
Die „Rolling Stones der Architektur“ – wie die Gründer des experimentellen Architektenbüros „Coop Himmelb(l)au“ Wolf D. Prix und Helmut Swiczinsky bereits betitel wurden - bauten etwa die Trabantenstadt Melun-Sénart bei Paris neu, den UFA-Kristallpalast in Dresden und die Kunstakademie in München.
Berühmtes Projekt in Frankfurt am Main ist ihr verdrehter EZB-Doppelturm für die Europäische Zentralbank. 1988 gingen Arbeiten der Wiener im New Yorker MoMA in die Ausstellung „Deconstructivist Architecture“ und 1993 sah sich das Centre Pompidou zu einer Retrospektive veranlasst. Für Lyon, so äußerte sich Wolf D. Prix, habe man eine völlig neue Form erfinden wollen, ohne Beispiel in der Welt und dem Gedanken des Sciene-Museum gerecht werdend.
Eingangshalle und Atrium im Sockelgeschoss mit Shops, Restaurant und Kassen. In der "Wolke" darüber befinden sich die Ausstellungsräume. Vierzehn riesige Pfeiler sowie drei gewaltige Treppen- und Aufzugschächte queren das Geschoss und tragen den 25.000 Tonnen schweren Baukörper. Foto © Architekturbüro Coop Himmelb(l)au Wien 2015 |
Herausgekommen ist ein auffällig fließendes Gebäude, fast ohne rechte Winkel, von 190 Metern Länge, 90 Metern Breite und fast 40 Metern Höhe. Über 14.000 Quadratmeter gestrahlter Edelstahl, kahler Beton und Glas bestimmen seine Fassade. „Kristallwolke des Wissens“ haben die Wiener ihr Konzept getauft, mit dem sie 2001 den internationalen Architektur-Wettbewerb zum Museum gewannen. Es verknüpft zwei Architektureinheiten, Kristall und Wolke.
Kristall ist der stadtwärtig ansteigende, transparente Gebäudeteil, ein Atrium mit Treppen, Lifts und Rampen als Eintrittshalle für die Besucher. Darunter liegen im wuchtigen Betonsockel Nebenräume und Auditorien.
Ausstellungsebene mit seitlich angeordneten, fensterlosen Schauräumen.Die Sammlungen, die hier unter einem Dach gezeigt werden, stammen aus dem früheren Museum für Naturgeschichte und dem Guimet-Museum in Lyon. Foto © Musée des Confluences, Lyon 2015
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Als Wolke werden die auf Stelzen stehenden Räume für Ausstellungen in den drei Stockwerken verstanden. Es sind fensterlose Schau-Boxen, die ein Maximum an Flexibilität für Präsentationen ermöglichen. Sie bieten auf etwa 3.300 Quadratmetern Platz für drei bio- und geowissenschaftliche Dauer- und sechs Wechselausstellungen.
Neues Guggenheim? Die unmittelbare Lage an der extrem stark frequentierten Stadtautobahn A7 (Paris-Marseille) und dem von Industriebrachen und sanierungswürdigen Büro- und Wohngebäuden dominierten südlichen Stadtviertel Perrache ist derzeit nicht sonderlich attraktiv. Doch es gibt einen Blick nach vorn, auf einen gewinnträchtigen Tourismus.
Blick in die Dauerausstellung: Die Entwicklung des Lebens. Vom Kolibri über Mammut bis Masken-Sammlung ist alles vertreten. Foto © Musée des Confluences, Lyon 2015 |
Neuer Wert Das Museum wird im Sinne eines „Bilbao-Effekts“ als Initialzündung für eine neue Inwertsetzung der Flussuferzone von Lyon-Perrache angesehen. Vorbild, so ist zu lesen, sei Frank Gehrys Guggenheim-Dependance im nordspanischen Bilbao, das durch den massenhaften Kultur- und Kunsttourismus große urbane und volkswirtschaftliche Schubkraft entwickelt habe.
Mit ihrer Einschätzung sind die Lyoner nicht allein. Gehrys Kultur-Bauten für Guggenheim sind mittlerweile weltweit gefragte Repräsentationshäuser mit Ausstrahlungspotential (mehr).
Museum der Fehler Was die Strittigkeit des Projektes angeht, werden Erinnerungen an Berlins Flughafen Schönefeld und Hamburgs Elbphilharmonie wach.
Das Musée des Confluences sollte spätestens 2009 fertigestellt sein und auch deutlich weniger kosten. Aus den veranschlagten 61 Millionen Euro im Planungsjahr 2001 wurde letztendlich das Fünffache - rund 300 Millionen. Hohn und Spott ergoßen sich reichlich über die Verantwortlichen. Es sei ein unfassbares Finanzfiasko (Un incroyable fiasco financier) schimpfte Frankreichs auflagenstarke Wochenschrift L´Express. Für andere kam die Einweihung des Museums einer "Zangengeburt" für einen Kultur-Moloch gleich.
In der Tat: Die Baukosten in Lyon übertrafen die der Louvre-Niederlassung in Lens und die des "Museums für die Zivilisation Europas und des Mittelmeers" (MuCEM) in Marseille. Das Desaster begann schon nach der Grundsteinlegung. Statt geplanter 19 Meter Bautiefe benötigte der kolossale Betonklotz aufgrund seines Gewichts eine Tiefe von 31 Metern.
Zum Planungsfehler kamen weitere technische Probleme und Pannen, Unstimmigkeiten mit Baufirmen und juristische Geplänkel, die Zeitverzögerungen addierten sich und die Kosten ebenfalls. Ein Skandal, wie die regionale Presse schon vor Jahren lautstark befand und der zur Demission eines Direktors führte. Und doch - jüngere und nachfolgende Generationen werden ihren Vorfahren dankbar sein für ihren Mut, ein solch einzigartiges Bauwerk zu errichten.
Claus P. Woitschützke
Musée des Confluences
86, Quai Perrache
69002 Lyon
Tel. (+33) 04 2838 11 90
Öffnungszeiten
DI-FR 11-19 Uhr
SA, SO 10-19 Uhr
DO bis 22 Uhr