Archiv 2017
NEUTRAL-MORESNET
Im Zink-Land
Ein kleiner Landstrich im äußersten Westen der Rheinlande war als neutrale Zone über 100 Jahre territorialer Zankapfel zwischen Preußen, Belgien und den Niederlanden. Zwei neue Publikationen erinnern an das geografische Kuriosum.
Adolphe Maugendre Zink-Gießerei Neutral-Moresnet, Lithographie 1855, Bildquelle: album des usines et etablissements de la sociéte, Paris 1855, Foto © Science & Society Picture Library SSPL/ Getty Images |
Im Blickpunkt steht ein kaum dreieinhalb Quadratkilometer großes „Tortenstück“ südwestlich von Aachen namens Neutral-Moresnet. Als der Landflecken 1816 wegen schlampiger Kartierungen in die Welt gesetzt wurde, waren nur der Zwergstaat Monaco und der Vatikan flächenmäßig kleiner.
Ein „Waisenkind des Wiener Kongress“ hat man das Gebiet genannt. Denn bei der Neuaufteilung Europas nach Napoléons Kriegen versäumten es die Diplomaten in Wien, die Gemeinde Moresnet mit dem Weiler Kelmis sauber zuzuordnen.
In der Wiener Schlussakte stand sie laut Artikel 25 den Niederlanden zu - Belgien spaltete sich erst Jahre später ab -, nach Artikel 66 hingegen Preußen. Die Unklarheit führte zu „provisorischen Grenzen“ und dem Status „neutral“, eine endgültige Einigung wurde immer wieder verschoben.
Postkarte mit dem Motiv „Vierländerblick" von 1905. Auf dem Vaalserberg westlich von Aachen markierte der Punkt das Zusammentreffen der Grenzen von Neutral-Moresnet, Belgien, Deutschland und den Niederlanden. Fotoquelle Wikiwand.com |
Eingeklemmt zwischen Belgisch-Moresnet im Westen und Preußisch-Moresnet im Osten hatte das Provisorium als neutrale Zone bis 1919, also über 100 Jahre, Bestand. Es war nie ein Staat, sondern eher das von Staatsgrenzen eingehegte Gelände eines profitablen Grubenbetriebs, der in der Rechtsform einer Aktiengesellschaft handelte und Galmei - besser bekannt als Zink - schürfte. Sein Name: „Sociéte Anonyme des Mines et Fonderies de Zinc de la Vieille Montagne“ oder kurz Vieille Montagne, zu Deutsch Altenberg.
Adolphe Maugendre Zinkgrube Vieille Montagne (Altenberg) bei Kelmis, Neutral-Moresnet, Lithographie 1855, Bildquelle: album des usines et etablissements de la sociéte, Paris 1855, Foto © Science & Society Picture Library SSPL/ Getty Images
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Phänomen Zink Und dies war der eigentliche Grund des Grenzstreits: Die Zinkspatvorkommen. Das Unternehmen, 1837 gegründet, beutete die altbekannte und begehrte Zinkgrube aus und galt bald als größter Produzent dieses Metalls weltweit.
Zink wurde in Europa und später auch global zu einem ästhetischen Phänomen, nachdem der Pariser Stadtplaner Georges-Eugène Haussmann (mehr) konsequent die Dächer der Metropole mit dem glänzenden mattgrauen Material eindecken ließ.
Der Stuttgarter Architekt Julius Chailly vermerkte 1856 nach einer Paris-Reise, dass Zink dort für Dächer innerhalb „weniger Jahrzehnte so allgemein“ geworden sein, „daß man sehr wenige neu erbaute Häuser mit einer andern Dachbedeckung“ sehe. Der Baumeister stellte fest: „Die Gesellschaft de la vieille montagne hat den Zinkverbrauch sehr gefördert“ und zeige in Paris eine „permanente Ausstellung von Zinkwaaren aller Art“, darunter auch Dachbedeckungen. „Der Eintritt…ist für jedermann frei“ und Beamte der Gesellschaft „ertheilen bereitwillig jede gewünschte Auskunft“ hinsichtlich der Verwendung.
Mit Zink gedeckte Dächer in Paris. Zeitgenössischer Spruch: „Wenn es in Paris regnet, tropft es auf Kelmis.“ Foto © Issol Liège 2017 |
Der Zinkproduzent aus Neutral-Moresnet hatte also nicht nur geschickte, rührige Verkäufer sondern auch ein modernes Marketing. Die Gesellschaft Vieille Montagne war der Wirtschaftsmotor der neutralen Zone und beschäftigte anfangs einige hundert Menschen dreier Nationalitäten, später mehrere Tausend, die sich zunehmend als Bürger einer neuen Nationalität verstanden.
Neutral-Moresnet blieb ein kurioses Landgebilde, das zu keinem Staat gehörte und dem alten und überholten "Code civil des Francais" von 1804 - auch Code Napoléon genannt - unterstand (mehr). Das hatte große Auswirkungen. Der Ruf des fast anarchischen Minilandes war nicht besonders gut. Es war ein Magnet für Militärdienstverweigerer, Schmuggler, Kriminelle, Prostituierte, Halbseidene und ein Eldorado für Glücksritter und Spieler. Andererseits konnte man dort fast steuerfrei und günstig leben und gut verdienen. Kurzum: Es war ein Land, das es so überhaupt nicht hätte geben dürfen.
Buchcover „Zink“ Foto © Edition Suhrkamp 2017
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Der belgische Autor und Historiker David Van Reybrouck erzählt die Geschichte dieses völkerrechtlichen Kuriosums, in der Fachsprache Kondominat genannt, in einer Art Geschichtsnovelle. „Zink“ heißt der höchst lesenswerte Essay von 87 Seiten. Interessant ist, dass Van Reybrouck seine Schilderungen an einst realen Personen festmacht.
Maria Rixen ist eine ledige Dienstmagd aus Rheydt, die in Düsseldorf Arbeit findet. Von ihrem Arbeitgeber geschwängert, die gesellschaftliche Schande vor Augen, sieht sie sich gezwungen, die Stadt am Rhein zu verlassen. Ihr Ziel „irgendwann im Herbst 1902“: das kleine Ländchen Neutral-Moresnet. Dort „ist man weniger eingeengt als im weiträumigen Preußen“ und es seien „mehr Mädchen dorthin gegangen, aus Deutschland, aus Belgien, sogar aus der Schweiz.“ Die Schwangere ist sich sicher, da werde man in Ruhe gelassen.
Im Februar 1903 bringt Maria ihr Kind zur Welt, es erhält den Namen Joseph Rixen. Der außereheliche Sohn bekommt den Nachnamen der Mutter, nicht jedoch ihre Staatsangehörigkeit. Sie bleibt Preußin, Joseph wird als „Neutraler“ registriert. Er wächst in einer Pflegefamilie auf, die ihn wegen einer Namensdoppelung Emil nennt, und wird ein bewegtes „alles andere als rosiges Leben“ führen.
Der Autor beschreibt vor dem Hintergrund der politischen und ökonomischen Entwicklung der Zinkgruben-Kommune den Lebensweg von Joseph/Emil Rixen. Als der gelernte Bäcker mit 68 Jahren stirbt, hinterlässt er eine große Familie mit Frau und elf Kindern, er selbst hatte fünf Staatsangehörigkeiten und zwei Identitäten erlebt – ohne jemals umgezogen zu sein. Der Essay spiegelt nicht nur das Leben von Menschen, die nie genau wussten, wohin sie eigentlich gehörten – er ist auch ein Blick auf die rheinische Geschichte, auf die alte Rheinprovinz und die Neuordnungen nach den Weltkriegen.
Buchcover „Niemands Land“ Foto © Piper Verlag 2017
Der Metallurge und Chemiker Jean-Jacques-Daniel Dony, genannt „Vater Dony“ (L'abbé Dony) (1759-1819) Foto Wikipedia.org
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Das zweite Buch, „Niemands Land“ von Philip Dröge, war in den Niederlanden ein Bestseller. Das NRC Handelsblad wertete es als „historische Erzählkunst auf höchstem Niveau“. Auf 285 Seiten breitet der niederländische Schriftsteller und Journalist die „unglaublich skurrile Geschichte“ von Neutral-Moresnet aus, und zwar überaus detail- und anekdotenreich, dabei unterhaltend, überraschend und humorvoll.
Der Leser erfährt, dass Napoléon eine Reise-Badewanne aus Zink nutzte, ein Geschenk des Lütticher Chemikers und Metallurgen Jean-Jacques Daniel Dony. Dessen „Dony et Compagnie“ hielt schon unter Napoléon in Moresnet Abbau-Konzessionen und Patente für die Galmei-Verhüttung. Dony hatte nämlich längst das enorme Potential des Gebietes erkannt und war in der Bewertung des Metalls Zink seiner Zeit voraus.
Dröge nimmt den Leser mit auf einen Gang durch interessante wie auch komplizierte ökonomische Winkelzüge, Geschäftsakquisen, Insolvenzverfahren und Kreditsicherungen, die sich um die Expansion der Zinkgrube von Moresnet rankten und an denen Dony letztlich scheiterte.
Er schildert die Widernisse, denen sich die „Neutralen“ ausgesetzt sahen, das wildwestartige unmoralische Gesellschaftsleben und die organisierte Kriminalität, den Briefmarkenkrieg, den zeitweisen Anschein des Provisoriums als „Klein-Monaco“ und den Versuch, diese Mikronation zu einem Esperanto-Staat zu machen. Der sollte dann „Amikejo“ (Ort der Freundschaft) heißen. Und der Autor macht deutlich, welche diplomatischen Geplänkel ausgefochten wurden und zu nichts führten.
Vor allem aber: Neutral-Moresnet überstand erstaunlicherweise mehrere politischen Erdbeben. Weder die belgische Revolution von 1830, in der sich die Südniederlande zum Staat Belgien erklärten, noch der Deutsch-Französische Krieg von 1870/1871 oder die Errichtung des deutschen Kaiserreiches veränderten etwas: im Unikum Neutral-Moresnet blieb alles beim alten. Das Ländchen, so Philip Dröge, überlebte die Revolution, die seinen Nachbarn, die Niederlande, zerriss.
„Niemands Land“ ist auch eine gut aufbereitete Abhandlung über das damals neue Material Zink und über die Tatsache, dass es das 19. Jahrhundert nachhaltig prägte. Denn Zink verdrängte „zunehmend Blei, Blech und Eisen als Baumaterial“. Es kostete erheblich weniger, rostete nicht, war wasserdicht, leicht zu verarbeiten und für die Schifffahrt zum Beispiel eine „fantastische Alternative zu den traditionellen Kupferbeschlägen“.
Zink - bis heute aktuell: Moderne zinkbekleidete Fassaden und Sheddächer am Museum Ludwig Köln, Architekturbüro Busmann + Haberer (BHBFH) Foto Lee M. © Stadt Köln |
Multikulti Ein weiterer höchst interessanter Aspekt ist die juristische oder territoriale Bewertung. Moresnet gehörte weder eindeutig zu Preußen/Deutschland noch zu Belgien oder den Niederlanden. Es hatte „keine wirkliche nationale Identität“, sondern war eher eine multikulturelle Gesellschaft. Mitte des 19. Jahrhunderts lebten dort „vierzig Prozent Deutschsprachige, dreißig Prozent Belgier, zehn Prozent Neutrale“, der Rest war ein Gemisch aus Niederländern, Franzosen und anderen Nationalitäten.
Aber zusammen bildete diese Völkerschaft langsam „eine richtige Nation im Westentaschenformat“, verwaltet gemeinsam von einem Kommissar Preußens und Belgiens, stets gesteuert von einem Bürgermeister als „Staatsoberhaupt“. 1890 hatte dieses Amt Hubert Schmetz inne. Der bekundete in einem Brief: „Wir haben das Glück, eigentlich gar nicht regiert zu werden. Ich hoffe im Interesse der Bürger, dass dieser Zustand erhalten bleibt.“ Der Zustand hielt noch die nächsten drei Jahrzehnte. Nach dem Ersten Weltkrieg und der Kapitulation Deutschlands fiel der Landstrich gemäß den Versailler Verträgen endgültig an Belgien.
Claus P. Woitschützke
► Die wechselvolle Geschichte Neutral-Moresnets zeigt in einer Dauerausstellung das Göhltalmuseum in La Calamine (Kelmis). Die Zink-Badewanne Napoléons befindet sich im Haus der Metallurgie und Industrie in Lüttich („Maison de la métallurgie et de l´industrie de Liège“).
Literaturhinweis:
David Van Reybrouck „Zink“, aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert, Edition Suhrkamp, Erste Auflage, Berlin 2017, 87 Seiten. ISBN 978-3-518-07290-5. Preis 10,00 Euro
Philip Dröge „Niemands Land“, aus dem Niederländischen von Christiane Burkhardt, Piper Verlag, München/Berlin 2017, 285 Seiten, ISBN 978-3-492-05831-5. Preis 22,00 Euro