Archiv 2019
ARCHITEKTUR-COMIC
Die Mies-Story
Es geht auch einmal ganz anders! Das Leben des großen Baumeisters aus Aachen in einer Graphic Novel: sehr privat, ja fast intim, nicht alles ist verbürgt, manches neu interpretiert und immer interessant.
Das New Yorker Seagram Building (links). „Und so bauten wir das Seagram, mein erstes Bürogebäude. Ein Meilenstein im Big Apple, mit einer absichtlich zurückgesetzten Fassade, um so einen öffentlichen Platz mitten auf der Park Avenue zu schaffen.“ Szene (Ausschnitt) aus: Mies van der Rohe – Ein visionärer Architekt. © Carlsen Verlag Hamburg, Agustín Ferrer Casas 2019 |
Im ausklingenden Bauhausjahr ist dies eine bemerkenswerte Hommage an den einstigen Direktor der legendären Kunstschule. Nach Monaten voller Bauhaus-Festivitäten, großen und kleinen Ausstellungen, Museumseröffnungen, Symposien, Seminaren und Volkshochschulführungen mag allerdings mancher denken: Bitte nicht noch was zu dem Thema.
Buchcover Mies van der Rohe – Ein visionärer Architekt. © Carlsen Verlag Hamburg, Agustín Ferrer Casas 2019
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Doch da würde er was verpassen. Der Comic-Band „Mies van der Rohe: Ein visionärer Architekt“ des spanischen Comiczeichners und Ex-Architekten Agustín Ferrer Casas, erschienen im Hamburger Carlsen Verlag, ist eine überaus unterhaltende Bildergeschichte. Stilistisch sorgfältig komponiert und elegant dargestellt, inhaltlich geistreich getextet, wie im Prolog der Berufskollege und Pritzker-Preisträger Lord Norman Foster bemerkt.
Die Rahmenhandlung beginnt 1965 und ist schnell erzählt. Auf dem Flug nach Westberlin zur Grundsteinlegung der Neuen Nationalgalerie zieht der Architekt Mies van der Rohe (1886–1969 mehr) im Gespräch mit seinem Enkel Dirk Lohan, ebenfalls Architekt, eine Bilanz seines bewegten Lebens. Es sind Erinnerungen an eine Zeit, in der sich Architektur und Design von Grund auf modernisierten, während sich Deutschland politisch auf den Abgrund zubewegte – und an ein Leben, das geprägt ist vom unbedingten Willen zu bauen.
Erstklassig und mit Kaffee und Martini im PAN AM-Clipper nach Westberlin: Mies van der Rohe und sein Enkel Dirk Lohan. Szene aus: Mies van der Rohe – Ein visionärer Architekt. © Carlsen Verlag Hamburg, Agustín Ferrer Casas 2019 |
Am Bauhaus: Von 1930 bis 1933 war Mies van der Rohe dort Direktor. Szene aus: Mies van der Rohe – Ein visionärer Architekt. © Carlsen Verlag Hamburg, Agustín Ferrer Casas 2019
Vom Nazi-Regime wurde das Bauhaus 1933 geschlossen. Szene aus: Mies van der Rohe – Ein visionärer Architekt. © Carlsen Verlag Hamburg, Agustín Ferrer Casas 2019
Großmannssucht? Aus Ludwig Mies wurde ab 1930 Mies van der Rohe. Szene aus: Mies van der Rohe – Ein visionärer Architekt. © Carlsen Verlag Hamburg, Agustín Ferrer Casas 2019
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Autor Ferrer Casas schlägt einen großen Architektur-Bogen und vermittelt so Einblicke in die Entwicklung- und Lebensabschnitte des berühmten Architekten: von Potsdam mit dem erstem Projekt „Haus Riehl“ 1907 bis zur Berliner Neuen Nationalgalerie Mitte der Sechzigerjahre.
Dazwischen menschelt es mächtig, was ja auch interessant und als dramaturgischer Kniff des Autors zu sehen ist. Die Story widmet sich intensiv den markanten Stationen des Baumeisters: Weltausstellung in Barcelona (1929), Professor am Dessauer Bauhaus (1930 bis 1933), NS-Anfeindungen in den Dreißigerjahren, Berliner Zeit, erfolgreiche Karriere in den USA, kurze Rückkehr nach Deutschland.
Die Dialoge zwischen Großvater Ludwig und Enkel Dirk lassen auf einen heftig aufflammenden Generationenkonflikt hoffen, der aber nicht wirklich stattfindet. Dirk bleibt zahm und der Opa rückt seine Vita zurecht.
Bemerkenswert ist, dass der Illustrator Ferrer Casas eine Reihe dunkler Seiten dieses menschlichen Bau-Denkmals aufblättert. Ludwig Mies van der Rohe, der gefeierte Star und geniale Entwerfer von revolutionären Glas-Stahl-Konstruktionen, wird zu einer erfolgsheischenden, seinen Namen aufpolierenden Figur, ein eher opportunistischer und fast unpolitisch wirkender Schürzenjäger, dessen sogenannte Flucht ins US-Exil weder kopfüber nachts noch unter Lebensgefahr begann.
Jenseits des Atlantiks wartete kein Einwandererlager und keine Entlausungsstation, sondern eine gut organisierte, finanziell abgesicherte, attraktive Arbeitsstätte. Nazis hin, Nazis her, der große Baumeister hatte, auch als man ihm seine Bauhaus-Schule 1933 in Dessau schloss, nur bedingt unter den NS-Schergen zu leiden. Da ging es einigen seiner Studenten und Mitarbeitern deutlich schlechter.
So jedenfalls vermitteln die bunten Strips im Comic Mies van der Rohes Leben in den Dreißigern. Dass es da rund zwanzig Jahre vorher, als der junge Häuserbauer in Siebenbürgen in der Etappe den Ersten Weltkrieg absaß, einen unehelichen Buben gegeben haben soll, wer hätte je davon gehört? Aber alles ist möglich. Und dass der Meister sich gerne dem anderen Geschlecht zuwandte und dies für sein Business zu nutzen verstand: Nichts Neues und nichts Anstößiges. Diese Episoden in der gezeichneten Biografie sind vielmehr amüsante und auflockernde Elemente.
Was die Architektur betrifft hat der spanische Zeichner so gut wie alles verarbeitet: die Villa Tugendhat in Brünn, die Wolkenkratzer in Chicago und New York, allerlei Objekte andernorts und die immerwährende Konkurrenz zum Wettbewerber Walter Gropius. Wer aufmerksam danach sucht, findet auch, was der gebürtige Rheinländer in seinem Heimatlandstrich realisiert hat: das avantgardistische Gebäudeensemble mit Haus Ester und Haus Lange in Krefeld, heute als Museen zugänglich (mehr).
Mies entwirft die Häuser Lange und Esters in Krefeld. Darunter: Gruppenbild mit Dame. Bauhausmeisterin Lilly Reich (mehr) im Kreis der Architekten, die 1927 in Stuttgart die Weißenhofsiedlung bauten. Szene aus: Mies van der Rohe – Ein visionärer Architekt. © Carlsen Verlag Hamburg, Agustín Ferrer Casas 2019 |
Die Comic-Hommage ist eine lesenswerte und spannende Lektüre. Und ein Geschenk für bauhistorisch Interessierte zu jeder Jahreszeit. Auch wenn das halbe Jahrhundert beruflichen Wirkens von Mies van der Rohe zwischen zwei Buchdeckel gepackt nicht alles abzubilden vermag, so ist doch das Ziel des Autors erreicht. Er wollte, wie er geäußert hatte, den Menschen hinter dessen "Architektenfassade" zeigen. Gut gelungen!
cpw
► Ferrer Casas hat bei der Motivwahl einige raffinierte Anleihen in der Film- und Fotowelt getätigt. Das Filmmelodrama „Frühstück bei Tiffany“ von 1961 mit Aktrice Audrey Hepburn ist in einer Bild-Szene vor dem New Yorker Seagram Building zu sehen (siehe oben). Henri Cartier Bressons springender Passant von 1932 (Original: Derrière la gare St. Lazare, Paris) macht´s bei Ferrer Casas im gründerzeitlichen Berlin. Und war es nicht James Dean, der mit Zigarette im Mundwinkel und hochgezogenen Schultern 1955 fröstelnd durch die Straßen zog? Da wird dieser Comic zu einem köstlichen Bilderrätsel.
Literaturhinweis: Agustín Ferrer Casas: Mies – Mies van der Rohe: Ein visionärer Architekt. Ungekürzte Ausgabe. 176 Seiten vierfarbig, Einband. ISBN 978-3-551-02294-3. Carlsen Verlag Hamburg 2019. Preis 20 EUR