Archiv 2016
KUNST UND METEOROLOGIE
Achtzehnhundertunderfroren
Alle reden derzeit vom Wetter. Das war vor 200 Jahren auch so. Nur war damals alles noch schlimmer! Denn 1816 gab es keinen Sommer, nur Dauerregen, Überschwemmungen, Hagel, Düsternis, Kälte und Frost. Der Elendssommer hatte erstaunliche gesellschaftliche, technische und kulturelle Folgen.
Johann Wilhelm Schirmer Der Sturm, um 1845, Radierung 21,5 x 33,4 cm gerahmt. Foto© Museum Kunstpalast Düsseldorf, Sammlung der Kunstakademie (NRW) Foto: Horst Kolberg, Neuss |
Das Wetter war ganzjährig so fürchterlich, dass der Volksmund eine über Generationen unvergessene Bezeichnung dafür prägte. In Deutschland nannte man den Schreckenssommer „Achtzehnhundertunderfroren“. Für die Nordamerikaner, von der Klima-Anomalie ebenfalls hart getroffen, war es „Eighteen hundred and froze to death“. Der Sommer 1816, der keiner war, gilt als der weltweit kälteste je registrierte für Regionen nördlich des Äquators.
Der Grund war eine entfesselte Natur ein Jahr zuvor: die Explosion des Vulkans Tambora auf der Insel Sumbawa in Niederländisch-Indien, dem heutigen Indonesien. Vulkanologen und Meteorologen werten diesen Ausbruch heute als den stärksten auf der Erde seit Menschengedenken. Er war weitaus verheerender als die berühmte Vesuv-Eruption 79 n.Chr. und der Krakatau-Ausbruch im Jahre 1883. In direkter Folge der Tambora-Katastrophe und einhergehender Tsunamis starben im südasiatischen Inselreich damals rund 100.000 Menschen.
Hedda Schattanik & Roman Szczesny Viktor Al Manouchi, 2015 Video (Stills) 16:00 Min., im Loop. Exponat im KIT Düsseldorf 2016 |
Der Ausbruch des Vulkans hatte großen Einfluss auf das Weltklima. Bis in den Juli 1816 hinein gab es zum Beispiel in Westeuropa wie an der amerikanischen Ostküste Schnee. Es regnete wochenlang ununterbrochen, Flüsse traten über die Ufer und ertränkten Weiden und Äcker. Der Himmel war ständig verdüstert, von Sonne und Wärme keine Spur.
Es brach die schlimmste Hungersnot des 19. Jahrhunderts aus, begleitet von Aufständen, Plünderungen, Hungertyphus und Fleckfieber. In ihrer Not suchten die Menschen in Westeuropa, die erst ein Jahrzehnt zuvor die napoleonische Soldateska überstanden hatten, nach neuen Lebensräumen. Auswanderung war für viele etwa aus Süddeutschland eine Option, mancherorts machte sich Endzeitstimmung breit. Das Wetter war ein Ding des Teufels geworden und nicht selten kündeten selbsternannte Propheten von einer Strafe Gottes für unsittliches Leben.
Richard Rothwell Portrait Mary Shelley, 1840, oil on canvas, 29 x 24 in. (737 x 610 mm) © National Portrait Gallery London
Frankenstein Stahlstich für Frontispiz der revidierten Ausgabe von Frankenstein von Mary Shelley, veröffentlicht von Colburn und Bentley, London 1831
Elizabeth Peyton Portrait Lord Byron, 1989, Öl auf Leinwand, 38,1 x 35 cm, Private Sammlung Courtesy Kalfayan Galleries, Athen – Thessaloniki
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Mary Was hat das nun alles mit Kultur und Kunst zu tun? Sehr viel. „Historiker entdecken erst heute, wie stark die Tambora-Krise das kulturelle Bewusstsein prägte“, fasste DER SPIEGEL (22/2016) das Thema neulich in einer Reportage zusammen.
Das Jahr ohne Sommer hat Maler wie Literaten gleichermaßen inspiriert und künstlerische Prozesse eingeleitet. Bestes Beispiel für den Einfluss von Schauerwetter auf Schauergeschichten ist die englische Schriftstellerin Mary Shelley - Namensgeberin einer aktuellen Schau im Düsseldorfer KIT mit dem Titel "Mary & der Vulkan".
In der Villa Diodati des skandalumwitterten englischen Aristokraten und Dichters Lord George Gordon Byron (1788-1824) am Genfer See verfasste sie, angeregt durch die düsteren Tage des horriblen Gespenstersommers und angeturnt vermutlich auch durch reichlich Branntwein, Opium und andere Trostspender, ihren Gruselbestseller „Frankenstein“, der zur Weltliteratur gehört.
Und auch die weniger anspruchsvolle Gothic Novel „Der Vampir“ von Byrons Leibarzt John Polidori entstand während jenes Aufenthalts am Schweizer See. Immerhin war sie die Vorlage für die später vom irischen Schriftsteller Abraham („Bram“) Stoker verfasste Romanfigur „Dracula“.
Der Hausherr himself verarbeitete den dunklen Sommer in seinem Gedicht „Die Finsternis“. Byron, berühmt für seine Sprüche ("I awoke one morning and found myself famous") wie auch die Tatsache, dass er keiner Herausforderung, welcher Art auch immer, aus dem Weg ging, beschrieb, wie es tagsüber unter der Aschewolke im sonst so beschaulichen Helvetien aussah. Der "Upper-Class"- Dichter stellte wenig poetisch fest, dass sich die Hühner bereits mittags zum Schlafen auf die Stange setzten.
Joseph Mallord William Turner Chichester Canal, 1828, oil paint on canvas 654 x 1346 mm, Tate Modern London, image released under Creative Commons CC-BY-NC-ND (3.0 Unported) |
Noch Jahrzehnte später veränderte sich das Tageslicht merklich, bedingt durch die gewaltigen Aschemassen in der Atmosphäre. Auf- und Untergänge der Sonne waren von nie gesehener Pracht. Das Farbspektrum reichte von Violett, Rot und Orange bis zu gelegentlichen Grün- und Blaunoten.
Der Maler William Turner (mehr) hielt dies in seinen berühmten seltsam rot und gelb getönten Abendszenerien fest. Auch bei Caspar David Friedrich, im Unglücksjahr 42 Jahre alt, spiegeln sich wie zeitgleich beim Franzosen Théodore Géricault und anderen Malern, die merkwürdigen und unwirklichen Himmelsfarben des apokalyptischen Sommers in den Gemälden. Es waren keine frühen Expressionisten-Colorits, die die Künstler seinerzeit auf die Leinwand brachten. Sie malten einfach, was sie sahen.
Elmar Hermann Frankenstein (Lay all your love on me), 2016 Styropor, Bauschaum, Gips, Farbe, Neon-Lampe 400 x 300 cm Foto: Ivo Faber. Installationsansicht in „Mary & der Vulkan“ im KIT Düsseldorf
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Im Düsseldorfer KIT an der Rheinfront widmet sich derzeit die Kunstausstellung „Mary & der Vulkan“ der Frage: „Was inspiriert Künstlerinnen und Künstler?“
Ausgehend vom „Gespenstersommer“ 1816 werden Arbeiten von 21 Kunstschaffenden, Studierenden, Lehrenden, Ehemaligen aus dem Düsseldorfer Kunstakademie-Umfeld der letzten 200 Jahre bis zur Gegenwart präsentiert. In Zeichnungen, Bildern, Skulpturen, Sound-Installationen und zeitbasierten Arbeiten wie Video und Performance nehmen sie die historische Naturkatastrophe zum Anlass einer Reflexion über die Grundzüge kreativen Handels.
Konzeptuell versteht sich „Mary & der Vulkan“ als Ganzheit, in der die einzelnen Kunstwerke aufgehen wie konstituierende Elemente eines Systems im Magmastrom, so die Kuratoren. Den Einstieg bildet eine Arbeit der Akademie-Rektorin Rita McBride, die - lediglich - den Grundriss von Le Corbusiers berühmter Ikone der Moderne, der Villa Savoye, abbildet, hier adaptiert auf die spezifische Räumlichkeit des KIT. Die Villa dient als Salon für das Arrangement einiger historischer Exponate unter anderem von Elise Concordia Crola und Johann Wilhelm Schirmer (mehr), in Kombination mit modernen Werken unter anderen von Akademieprofessor Michael Buthe (1944-1994), der US-amerikanischen Portraitistin und Akademieprofessorin Elizabeth Peyton (*1964) und anderen Hochschulvertretern.
rART/cpw
Die Ausstellung „Mary & der Vulkan. Eine meteorologische Phantasmagorie“ wird bis zum 14. August 2016 gezeigt.
KIT - Kunst im Tunnel
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Tel. 0211 / 5209 9597
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