ARCHIV 2012
Erkundung des Unterbewussten
Narren, Künstler, Heilige
Kosmische Reisen und Hilfsgeister: Schamanen-Trommel , Telengiten (Altai), Sibirien, Anfang 20. Jahrhundert , Holz, Leder, Stoff, Pigment © Russisches Museum f. Ethnografie, St. Petersburg
Die Nacht: Myriam Mihindou (*1964), Déchoucaj', 2004–2006, Fotografie © Trafic Galerie, Paris
Die Nacht: Kuker-Kostüm, Pernik, Bulgarien, Ca. 1980–1990, Fell, Horn, Messing, Leder, Tierhaare © Musée international du carnaval et du masque, Binche
Die heiligen Clowns: Die heiligen Narren in Christo Prokopij und Ioann von Ustjug, Russland, Ca. 1660–1700, Eitempera auf Holz © Ikonen-Museum Recklinghausen
Magie und Krankheit: Statuette einer an der Schlafkrankheit leidenden Frau, Mitsogo, Gabun, Ende 19./Anfang 20. Jahrhundert, Holz © Musée du quai Branly, Paris
|
Die Bonner Bundeskunsthalle widmet sich in ihrer Ausstellung „Narren, Künstler, Heilige – Lob der Torheit“ einem anspruchsvollen und schwer zu fassenden Thema. Im Zentrum steht die Rolle des Exzentrikers im wahrsten Sinne des Wortes, des an der Peripherie gesellschaftlicher Normen angesiedelten Individuums.
EIN ERSTER Blick über die Auswahl der Exponate der Ausstellung ließe auf ein klassisches ethnologisches Konzept schließen: Hier sind Masken und Kostüme, Fetische und Reliquien, pagane Amulette, primitive Musikinstrumente und ähnliches zu bestaunen, was dem Betrachter nicht selten einen wohligen Schauer über den Rücken jagt. Doch welche grundlegende Linie verfolgt das Ausstellungskonzept, das sämtliche Kontinente, Zeiten und Ethnien berührt?
Was sich im ersten Augenblick als Panoptikum zeigt, ist die Umsetzung eines sehr abstrakten Konzepts, das, wie der Themenbereich selber, häufig weniger präzise als assoziativ funktioniert. Die Ausstellung, die von dem leitenden Kurator des Pariser Palais de Tokyo, Jean de Loisy, entwickelt wurde, hat bereits eine Schau im Musée du quai Branly hinter sich und wurde für die Bundeskunsthalle nur leicht modifiziert. Getreu dem Selbstverständnis des Musée du quai Branly, das als französisches Nationalmuseum für außereuropäische Kunst einen ethnologischen Ansatz bewusst ablehnt und stattdessen die künstlerische Dimension eines Stückes herausarbeitet, ist auch die Bonner Ausstellung mehr als nur eine Sammlung exotischer und unheimlicher Objekte unter einem bestimmten Motto.
Visualisierung eines Phänomens
Es geht vielmehr um die Visualisierung eines Phänomens, das sich in sämtlichen Zeiten und Kulturen der Menschheitsgeschichte zeigt, nämlich des regelbrechenden und dionysischen, des exzessiven und unkontrollierten.
Mit diesem Phänomen eng verbunden sind aus unserer modernen Sichtweise Qualitäten wie Furcht und Ekel, häufig gar Perversion. Im Zentrum steht dabei das Irrationale, die Transgression in das Mystische. Die Ausstellung geht diesem Phänomen auf die Spur, indem sie Szenarien durchspielt, an denen das Mystische in das Leben des Menschen dringt: So ist die Nacht etwa die Zeit der Geister und schlimmen Träume, die durch schützende Talismane in Zaum gehalten werden können. Auch das Ritual, bei dem übernatürliche Kräfte angerufen werden, zählt dazu. Hier spielen Masken und Kostüme eine wichtige Rolle, die den Tragenden für die Dauer der Verkleidung verwandeln und zum Medium machen.
Kollektiver Mythos
Seien dies nun karnevaleske Masken aus der Schwarzwaldregion oder dämonische Holzgesichter aus Alaska: Die Ausstellung präsentiert diese spannenden, skurrilen und häufig auch einfach schönen Utensilien als Zeugen der menschlichen Auseinandersetzung mit dem Übernatürlichen. Als „Meister der Unordnung“ sind ihre Bediener, die Exorzisten und Wahrsager, zugleich am Rande der Gesellschaft und dennoch mitten in ihr fest installiert. Ihre Existenz zeigt auf, dass die Gesellschaft ihre Dynamik aus entgegengesetzten Dingen bezieht: Ordnung und Unordnung, bewusst und unbewusst, Logik und kollektiver Mythos.
Künstler als Nachfolger
mythischer Grenzgänger
Dass dieses Schema nicht ausschließlich auf ältere oder gar primitive Gesellschaften zutrifft, macht die reiche Ausstattung der Schau mit Werken moderner und zeitgenössischer Künstler deutlich. Der individualistische, radikale Künstler der Moderne wird zum Nachfolger dieser mystischen Grenzgänger, indem er in seinen Arbeiten an den tief sitzenden Gefühle des Betrachters rührt, wie etwa die scheinbar blutbeschmierten Leinwände des Wiener Aktionisten Hermann Nitsch. So ist dies der Kern der Ausstellung: Das letztlich in Worten und Gedanken nicht fassbare, welches dennoch jedes Kind instinktiv kennt wenn es Angst hat vor dem bösen „Ding“ unter dem Bett – und zugleich die Illustration dessen, wie der Mensch mit diesem nicht Begreifbaren umzugehen vermag.
Blicke in die Ausstellung - Fotos: Dr. Mark Brandenburgh |
Mit Schaustücken verschiedenster Epochen vom alten Ägypten bis zum antiken Südamerika, vom mittelalterlichen Japan bis zu den arktischen Regionen ist die Bonner Ausstellung reich bestückt. Sie stammen aus ca. 60 privaten und öffentlichen Sammlungen. Zu den Leihgebern zählen unter anderen das Museo Nacional del Prado, Madrid, das Musée du Louvre, Paris, das Russische Museum für Ethnografie, St. Petersburg, das Museo die Capodimonte, Neapel, und das Staatliche Museum für Völkerkunde, München.
Robert Woitschützke
Die Ausstellung „Narren, Künstler, Heilige – Lob der Torheit“ ist bis zum 2. Dezember 2012 zu sehen.
Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland
Museumsmeile Bonn
Friedrich-Ebert-Allee 4
53113 Bonn
Tel.: 0228 9171–200
Öffnungszeiten:
DI - MI 10 – 21 Uhr
DO - SO 10 – 19 Uhr
©Fotos Bundeskunsthalle