Archiv 2016
KANDINSKY, MARC & DER BLAUE REITER
„Man steht vor neuen Werken..."
als sei es ein Traum „… und hört die apokalyptischen Reiter in den Lüften“. So schwärmte der Künstlerverein „Der Blaue Reiter“ im Mai 1912 bei der Präsentation seines gleichnamigen Almanachs. Zwei aufsehenerregende Expositionen hatte der Malerkreis in dem halben Jahr zuvor in München auf die Beine gestellt.
Franz Marc Blauschwarzer Fuchs, 1911, Öl auf Leinwand, 50 x 63 cm, Von der Heydt-Museum Wuppertal © Medienzentrum, Antje Zeis-Loi / Von der Heydt-Museum Wuppertal Fotoquelle: Fondation Beyeler Riehen/Basel 2016 |
Diese Schauen öffneten, wie bereits die ersten drei Sonderbund-Ausstellungen in Düsseldorf ab 1909, der modernen Malerei in Deutschland die Tür.
Was in der Galerie und in der Kunsthandlung ausgestellt wurde, war außergewöhnlich und sprengte alle bis dahin gängigen Vorstellungen künstlerischen Ausdrucks. Es war ein neues, revolutionäres Kunsterlebnis! Die Künstlerbewegung „Der Blaue Reiter“ ist seither immer wieder Gegenstand spannender Expositionen.
Wassily Kandinsky Improvisation 10, 1910, Öl auf Leinwand, 120 x 140 cm © Fondation Beyeler Riehen/Basel 2016 Foto: Peter Schibli, Basel |
Derzeit in der Schweiz. Erstmals seit drei Jahrzehnten wird dort mit einer umfassenden Schau an dieses herausragende Kapitel internationaler Kunstgeschichte erinnert. Die höchst renommierte Fondation Beyeler in Riehen bei Basel zeigt in ihrer Herbstausstellung „Kandinsky, Marc & Der Blaue Reiter“. Ausgehend von den Werken Wassily Kandinskys aus der eigenen Kollektion sowie mit Leihgaben aus Museen und Privatsammlungen wird dem Publikum ein Einblick in die Arbeit jener Gruppe avantgardistischer Künstler gegeben, deren Offenheit und Internationalität durch den Ersten Weltkrieg (mehr) jäh unterbrochen wurde.
Die Beyeler-Ausstellung zeigt den Almanach und etwa 70 Werke der an diesem Brevier beteiligten und mit Kandinsky und Marc befreundeten Künstler, wie Gabriele Münter, August Macke und Alexej von Jawlensky. Vor allem aber sind es Werkgruppen Kandinskys und Marcs, die das Revolutionäre in der Malerei bis 1914 veranschaulichen. Zeitlich setzt die Exposition 1908 an, als Kandinsky und Münter als unverheiratetes Paar in München wohnten und sich mit dem ebenfalls in "wilder Ehe" lebenden russischen Künstlerduo Marianne von Werefkin und Alexej von Jawlensky trafen.
Wassily Kandinsky Der Blaue Reiter, 1903, oil on canvas 52,1 x 54,6 cm, Foto © Stiftung Sammlung E.G. Bührle, Zürich
Wassily Kandinsky Umschlagillustration für den Almanach Der Blaue Reiter (1911) Foto © Lenbachhaus München
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Der Blaue Reiter! Woher stammte der ungewöhnliche Name der Kunstbewegung? Als Ideengeber gilt ein Kandinsky-Gemälde von 1903. Es zeigt einen blau gewandeten Reiter, der mit seinem Schimmel durch eine spätsommerlich-herbstliche Landschaft prescht. Kandinsky und Marc verwendeten den Gemälde-Titel 1911 sowohl für die neu gegründete Malervereinigung als auch ein Jahr später für die Titel-Illustration ihres legendären Almanachs. Das Sinnbild ´Blauer Reiter´ könne, so die Riehener Kuratoren, als kosmische Farbe in Verbindung mit der grenzüberschreitende Dynamik des Reiters auf dem Sprung interpretiert werden.
Das Sammelwerk „Der Blaue Reiter“ war eines der bedeutendsten Künstlermanifeste der modernen Kunst in Europa, eine Text- und Bilderkollektion aus unterschiedlichen Kulturen von verschiedenen Künstlern.
Er sollte die Notwendigkeit eines Epochenumbruchs der Künste zu Beginn des 20. Jahrhunderts dokumentieren. Heute ist es ein Zeugnis für das damals revolutionäre neue Kunst- und Weltverständnis, bei dem es nicht mehr um die Abbildung der sichtbaren Wirklichkeit ging, sondern um die Verbildlichung geistiger Fragen. Vor allem Kandinsky und Marc formulierten im Almanach ihren Glauben an das „Geistige in der Kunst“.
Dieses Denken, vor dessen Hintergrund vor allem diese beiden Protagonisten ihren Weg zur Abstraktion entwickelten, führte zu einem Wendepunkt in der abendländischen Kunstauffassung und prägte - und prägt bis in die Gegenwart hinein - Generationen von Malern.
Wassily Kandinsky Phalanx-Plakat im Jugendstil für die erste Ausstellung 1901 in München. Lithografie, Fotoquelle: MoMA Collection
Ausstellungsplakat der Neuen Künstlervereinigung München (NKVM) zur 1. Ausstellung in der Galerie Thannhäuser 1909. Bildquelle Erbslöh-Archiv, Familienverband Julius Erbslöh, Wuppertal
Wassily Kandinsky um 1913 Fotoquelle: Rückblicke. Berlin Sturm Verlag. Fotograf unbekannt
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Maßgeblicher Initiator der Vorgänge um die Gründung des "Blauen Reiters" war Wassily Kandinsky (1866-1944). Der Maler, Grafiker und Kunsttheoretiker - ein gebürtiger Moskowiter und promovierter Jurist - zog mit 30 Jahren nach München, um sich dort entgegen seiner Ausbildung der Malerei zu widmen. In München wurde er zu einem führenden Kopf der Avantgarde-Malerei. 1901 war er Mitbegründer der Künstlergruppe „Phalanx“ und 1909 der „Neuen Künstlervereinigung München“ (NKVM). Daraus erwuchs zwei Jahre später seine enge Kooperation mit Franz Marc. Beide bildeten die Redaktion des Almanachs.
Voraus ging aber ein Zerwürfnis: Als für die dritte NKVM-Ausstellung 1911 ein abstraktes Kandinsky-Gemälde von der Gruppe abgelehnt wurde, traten Kandinsky, Marc und Münter aus und veranstalteten kurz darauf ihre eigene Schau, eben jene erste Blaue-Reiter-Exposition bei Thannhäuser. Der deutsche Expressionismus hatte eine neue Heimat, der NKVM-Rest löste sich 1912 nach der Abspaltung auf.
Kandinskys Maler-Karriere spiegelt in eindrucksvoller Weise die Suche eines Künstlers nach neuen Ausdrucksformen. Seine Arbeiten waren in der Phalanx-Phase noch vom Jugendstil geprägt, später von Volkskunst und Impressionismus. Erst in der abstrakten Malerei fand er die Kunstform, in der die Inhalte völlig losgelöst von den Gegenständen waren und Farben und Formen frei verwendet wurden. Es herrschte "Die Freiheit der Farbe", wie die Fondation Beyeler in ihrer Ausstellung bemerkt.
In seinen Publikationen „Über das Geistige in der Kunst“ (1912) und in der Bauhaus-Schrift „Punkt und Linie zu Fläche“ (1926) legte Kandinsky seine theoretischen Gedanken zur abstrakten Malerei nieder. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs kehrt er nach Moskau zurück und war dort bis 1921 künstlerisch und politisch tätig. Von 1922 bis 1933 lehrte er am Bauhaus, erst in Weimar, dann in Dessau und Berlin (mehr). 1924 gründet er mit Feininger und Klee, den beiden Bauhaus-Meistern, sowie Alexej von Jawlensky die Ausstellungsgemeinschaft „Die Blaue Vier“. Nach Schließung des Bauhauses durch das NS-Regime emigrierte Kandinsky 1933 nach Frankreich und erhielt 1939 die französische Staatsbürgerschaft. In Paris gab er die abstrakt-rationale Strenge seiner Bauhaus-Zeit auf und wandte sich wieder spielerisch-lyrischen Formen zu.
rART/Klaus M. Martinetz
► Im Sommer 2012 kuratierte der „Sonderbund westdeutscher Kunstfreunde und Künstler“ in Köln die legendäre vierte Sonderbund-Ausstellung mit über 630 Werken der europäischen Moderne. Es war eine Ausstellung der Superlative (mehr). Die NKVM und "Der Blaue Reiter" waren unter anderen mit Arbeiten von Jawlensky, Erbslöh, Kanoldt und Marc vertreten, von Kandinsky wurden zwei Werke ausgestellt. Auch der Sonderbund, zu dessen Mitgliedern etwa der Folkwang-Begründer Karl Ernst Osthaus (mehr) und der Kunsthändler Alfred Flechtheim (mehr) gehörten, löste sich 1915 auf.
► Die Begegnung zwischen Kandinsky und Marc gilt als eine der wichtigsten und folgenreichsten in der Geschichte der Kunst. Ihr Briefwechsel ist ein Dokument einer nicht immer einfachen, aber gegenseitig inspirierenden künstlerischen Kooperation. Anlässlich der Ausstellung lesen die Schauspieler Daniel Brühl und Ulrich Tukur, zwei internationale Stars des Kinos, aus Briefen und Dokumenten der beiden Maler. Termin: Mittwoch 23. November 2016, 19.00 Uhr.
Die Ausstellung „Kandinsky, Marc & Der Blaue Reiter“ wird bis zum 22. Januar 2017 gezeigt.
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