Archiv 2020
WELT-EMOJI-TAG
Wo kommen die Icons her?
"Sprechende Zeichen", Piktogramme und die heute beliebten Emojis feiern Geburtstag. Worte trennen, Bilder verbinden: Nach dieser Devise schuf der Wiener Universal-Intellektuelle Otto Neurath 1920 die ersten bildlichen Statistiken. Es war eine neue „Zeichensprache“, die für Aufsehen sorgte.
Otto Neurath (1882–1945) vor einem Isotype-Plakat, London 1944. Foto © Otto and Marie Neurath Isotype Collection, University of Reading. |
Die zunächst als „Wiener Methode der Bildstatistik“ eher umständlich bezeichnete Darstellungsform wurde später unter dem Begriff ISOTYPE weltweit bekannt und war Impulsgeber für Grafikdesigner und Gestalter. Das Akronym ISOTYPE steht für „International System of Typographic Picture Education“ (Internationales System bildhafter Bildung).
Es war eine völlig neue Bildmethode mit – oft als revolutionär charakterisierten – standardisierten Symbolen. Sie bestach durch eine hohe Qualität der Darstellung und die Konzentration auf Wesentliches. Und das war das Neue, das machte diese Bildsprache so erfolgreich.
Insbesondere im englischsprachigen Raum wurden die „sprechenden Zeichen“ sofort begeistert genutzt. Die New York Times sah 1933 in Neuraths Informationsgrafik sogar ein global einsetzbares „Bild-Esperanto“.
Beispiel für Neuraths Bildstatistik: Wohndichte in Großstädten. Mit der „Wiener Methode“ wurden komplexe Daten mit einfachen Symbolen erklärt. Aus: Otto Neurath/ Gerd Arntz, Gesellschaft und Wirtschaft, Bildatlas 1930, Blatt 72. Bildquelle © Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum Wien (gemeinfrei)
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Heutiges Piktogramm Rettungs- und Fluchtwegzeichen nach DIN EN ISO 7010 Bildquelle © Seton, Brady GmbH
Gerd Arntz Beispiele von Piktogrammen für Isotype. Fotoquelle © Gerd Arntz Web Archive (Niederlande) 2020
Robert Scheers Portrait Gerd Arntz 1982. Der deutsche Grafiker und Illustrator lebte bis zu seinem Tode 1988 in Den Haag. Fotoquelle Wikipedia Foto © Haags Gemeentearchief/Nederland Nr. 1.60185
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Bis heute ist dieses Erbe Neuraths präsent: „Viele Zeichen, die wir tagtäglich sehen, stehen in der Tradition von Isotype", so der Neurath-Biograf Günther Sandner.
Die Zeichen sind zeitlos und sie werden als die Vorläufer der heute omnipräsenten Piktogramme und visuellen Orientierungshilfen angesehen. Und sie waren 1999 Geburtshelfer der aus Japan stammenden Emojis, die wiederum Anleihen bei den Manga-Comics nahmen (mehr).
Hundertfach begegnen sie uns täglich, nicht nur als Internet-Icons, sondern wie selbstverständlich in Form von Leitsystemen etwa auf Flughäfen, bei U- und S-Bahn-Verkehren, als Flucht- oder Rettungszeichen in öffentlichen Gebäuden wie etwa Schulen oder Krankenhäusern. Und natürlich in den Verkehrszeichen!
Was gelegentlich übersehen wird: Die Urform dieser so selbstverständlich daherkommenden grafischen Bildformung und Zeichen, ob nun Figuren, Symbole, Diagramme, Mengen- und Zahlenbildern, sind schon 100 Jahre alt und stammen von einem rheinischen Grafiker und Illustrator.
Gerd Arntz (1900–1988) hieß dieser und war gerade 26 Jahre alt, als seine Karriere an der Seite Neuraths begann. Arntz, Spross einer Remscheider Fabrikantenfamilie, war an der Düsseldorfer Kunstakademie zum Künstler und Grafiker ausgebildet worden.
Als Student arbeitete er mit der Gruppe "Junges Rheinland" (mehr) zusammen und war mit dem Maler Jankel Adler befreundet. Er entwickelte, nach anfänglich eher traditionellen Darstellungen, in den Techniken des Holz- und Linolschnitts zunehmend eine sehr eigene, stilistisch prägnante und gesellschaftsbezogene Darstellungsweise, die leicht wieder zu erkennen war. Ab 1925 übernahm Arntz in Düsseldorf das Atelier des Malers Otto Dix (mehr).
Die Zwischenkriegsjahre waren im Rheinland eine dynamische, experimentelle Zeit für Kunst und Kultur. Köln hatte sich zu Beginn der Zwanzigerjahre zu einem Zentrum der Dadaisten (mehr) entwickelt, mit Max Ernst und Hans Arp an der Spitze. Mit der avantgardistischen Kölner „Gruppe der progressiven Künstler“ um Heinrich Hoerle, Anton Räderscheidt, dem Fotografen August Sander und anderen war Gerd Arntz bekannt und teilte mit ihnen politische Einstellungen und kreative Ausrichtung.
Gerd Arntz Mitropa, Holzschnitt, 1925, Grafik im Stil des reduzierten Realismus für die 1916 gegründete „Mitteleuropäische Schlaf- und Speisewagen Aktiengesellschaft“. Neurath sah die Darstellung 1926 auf der Gesolei in Düsseldorf. Fotoquelle © Gerd Arntz Web Archive (Niederlande) 2020 |
Otto Neurath, der studierte Nationalökonom, Soziologe und Philosoph, gründete 1925 im sogenannten „Roten Wien“ das noch heute existierende Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum. Es war sozusagen sein Forschungsinstitut, in dem er beständig an der „Wiener Methode der Bildstatistik“ arbeitete. Im Folgejahr besuchte Neurath in Düsseldorf die Ausstellung für Gesundheitspflege, soziale Fürsorge und Leibesübungen (GeSoLei). Dort sah er erstmals Grafiken von Arntz und gewann den Rheinländer für sein Projekt.
1929 zog Arntz nach Wien. Als grafischer Leiter des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums wurde er enger Mitarbeiter von Neurath. Gemeinsam setzten sie rund eineinhalb Jahrzehnte lang völlig neue Akzente in der Bildsprache. Mit der „Wiener Methode“, so Neuraths Ziel, sollten komplexe soziale und ökonomische Zusammenhänge mit Mengenbildern aufgezeigt werden: einfach, klar strukturiert, jedermann zugänglich - soziale Volksaufklärung im weiteren Sinne.
Es war der Versuch, Wissen durch eine universell nutzbare Bildsprache zu demokratisieren. Eine Symbolsprache mithin, die verständlich sein sollte für „Gelehrte wie Analphabeten“. Es folgten in Wien erste Schulversuche mit der neuen bildhaften Pädagogik. Zwischen 1930 und 1934 wurden 100 Tafeln des bildstatistischen Elementarwerkes „Gesellschaft und Wirtschaft“ in Leipzig publiziert.
Piktogramm Darstellung für Veränderungen in der Arbeitswelt: Otto Neurath Our Jobs Change. Bildquelle © R. Modley, 1937/1952, Pictographs and Graphs
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Nach der NS-Machtübernahme änderte sich für die antifaschistisch eingestellten Bildsprachler das Leben radikal. Neurath, Arntz und die Mitarbeiterin Marie Reidemeister, die spätere Ehefrau Neuraths, wechselten in die liberalen Niederlande, wo sie die „Wiener Methode“ in ISOTYPE umbenannten.
Nach dem deutschen Überfall auf das Land im Mai 1940 flohen Neurath und Reidemeister überstürzt nach England, Gerd Arntz wurde zwangsweise Wehrmachtssoldat. Otto Neurath arbeitete nach einer längeren Internierungszeit in Oxford an der Methode der ISOTYPE weiter. Er verstarb dort überraschend 1945, seine Frau Marie übernahm die Arbeiten an der Bildmethode.
Die visuelle Kommunikation ist heute ohne Piktogramme nicht mehr denkbar. Der Österreicher Neurath als Wissenschaftler und der Remscheider Gerd Arntz als herausragender Grafiker werden als die Pioniere in der Entwicklung einprägsamer figürlicher Symbole angesehen.
Erst in jüngster Zeit wurde mit Ausstellungen und Publikationen wieder an sie erinnert. Sowohl für Neurath als auch für Arntz gilt, dass sie im Ausland bekannter sind als in ihren Geburtsländern. Neuraths Nachlass wird als „Otto and Marie Neurath Isotype Collection“ in der britischen University of Reading verwahrt. Gerd Arntz, einer der „Väter des modernen Piktogramms“ lebte bis zu seinem Tode 1988 in Den Haag. Das Gerd Arntz Archive Gemeentemuseum The Hague (Municipal Museum) beherbergt seine Werke, die auch unter „Gerd Arntz web archive“ eingesehen werden können.
rART/cpw
► Arbeiten nach Vorbildern von Neurath/ Arntz schufen später zahlreiche Künstler. Herausragend war unter anderen Otl Aicher (1922–1991), einer der prägendsten deutschen Grafikdesigner des 20. Jahrhunderts. Der Öffentlichkeit bekannt wurde Aicher 1972 durch seine Entwürfe der Sportpiktogramme für die Münchner Olympischen Spiele. 1953 zählte er zu den Mitbegründern der Ulmer Hochschule für Gestaltung.
►Zu der von Otto Neurath entwickelten „Wiener Methode der Bildstatistik“ besteht eine Sammlung mit Bildstatistiken, Broschüren, Fotos sowie dem Atlas „Gesellschaft und Wirtschaft“ in dem Österreichischen Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums Wien, Vogelsanggasse 36, A-1050 Wien.
Literaturhinweis:
Günther Sandner Otto Neurath , eine politische Biografie, geb., Verlag Zsolnay Wien, 2015, 352 Seiten. Preis 25,60 EUR