Archiv 2011: aus "Kultur-Orte"
TextilWerk Bocholt – eine Museumserweiterung
Die rote Treppe im alten Seilgang ist optische Leitlinie im Inneren der ehemaligen Spinnerei. Sie folgt der Energieachse der Fabrik über die gesamten Stockwerke. Foto: ATELIER BRÜCKNER, mac tanó |
Vom
Industriebau
zur
Kulturfabrik
Wo, wenn nicht hier, so könnte man fragen. Wo könnten textile Geschichte, Textilkunst und textilaffine Kultur eindrucksvoller präsentiert und inszeniert werden als in einer alten ehemaligen Baumwollspinnerei? Und das in einer der immer noch bedeutendsten Textilstädte Deutschlands. 6000 Quadratmeter Museums- und Ausstellungsfläche im Endausbau, in einem historischen Gebäude, das Geschichte atmet. Eine faszinierende Industrie, die über Jahrhunderte im rheinisch-westfälischen Raum strukturbestimmend war, hat einen neuen kulturellen und sehenswerten Leuchtturm.
DER LANDSCHAFTSVERBAND Westfalen-Lippe (LWL) hat in der innenstadtnahen historischen Spinnerei Herding den zweiten Teil seines Textilmuseums in Bocholt eröffnet. Künftig soll das sanierte Industriedenkmal als Kulturforum und Museum Strahlkraft für die Region entfalten. Gleichzeitig wird mit einem neuen Namen die räumliche wie konzeptionelle Erweiterung verdeutlicht: Statt Textilmuseum heißt der Standort des LWL-Museums in Bocholt nunmehr „TextilWerk“ mit den beiden Teilen Weberei (seit 1984 Museumsteil an der Uhlandstraße 59) und Spinnerei (neuer Museumsteil an der Industriestraße 5). Im Zuge der Stadtentwicklung ist eine Fußweg-Verbindung beider Standorte über einen Flussponton vorgesehen.
Der Rohstoff Wolle, nach Provenienz sortiert. Foto rArt |
Spannungsreiche Kontraste
Wer von der Bocholter Innenstadt flussaufwärts entlang des Aa-Gewässers nach Osten promeniert, stößt nach kurzer Zeit auf das repräsentative vierstöckige Backsteingebäude der ehemaligen Spinnerei. Rote und gelbe Zierziegelsteine prägen die Fassaden. Aufgeräumt wirken alter Firmeneingang, museale Pförtnerloge und Innenhof. Die wirklich überraschenden Kontraste erschließen sich dem Besucher jedoch im Inneren. Denn die Form- und Farbensprache wurde, wie es architektensprachlich heißt, aus dem Altbestand des Gebäudes heraus entwickelt.
Das neue TextilWerk mit aufgesetztem Glaskubus (Restaurant), davor Werksäle mit charakteristischen Reitern einer Sheddach-Konstruktion. Foto LWL Martin Holtappels |
Abblätternde Farbschichten, eigenwilliges Colorit mit dem Charme der 50er/60er Jahre, allerlei Arbeitsspuren, Ölflecken da und dort, die eine oder andere Notiz - Graffito aus den Jahren der Prosperität-, zerschlissene Betonböden und der unverwechselbare Geruch von Fabrik, Rohstoff und Produktion bilden eine Melange, die in die textile Welt vor 40 Jahren eintauchen lassen. Das helle Foyer, einst Kesselhaus und Standort einer Dampfmaschine sowie der Museumsshop und das Kassenhäuschen bilden - kubisch integriert als Raum im Raum - mit anderen modernen Einbauten markante Akzente im bewusst historisch gehaltenen Baubestand. Erschlossen werden die vier Etagen durch eine rote kaskadenähnliche Stahltreppe, die wie ein roter Leitfaden in den ehemaligen Seilgang der Transmissionsriemen und damit in die Energieachse der alten Fabrik eingebaut wurde. Auf der Dachterrasse schließlich ist Gastronomie präsent – in einem Glaskubus, mit großartigem Stadtblick und des nachts weithin leuchtend. Die Deckenbeleuchtung des luftigen Cafés bilden 88 Hängelampen im Industriestil der 50er Jahre. Vor der Glasfassade des Top-Bistros deuten senkrechte Stahlstäbe symbolisch an, um was es hier früher einmal ging: um textile Strukturen nämlich. Genau genommen um die Produktion von hochwertigsten Garnen.
Gebäude und Unternehmen
Blick in einen leeren ehemaligen Spinnsaal, der heute für Veranstaltungen zur Verfügung steht. Foto LWL Martin Holtappels
Der alte Maschinenpark wurde nicht entsorgt, sondern wieder funktionsfähig hergerichtet. Foto rArt
Dachrestaurant in der Abendstimmung und Blick auf die Stadt. Auffällig sind die Industrielampen nachempfundenen Lichtquellen und an Garne erinnernde Metallbänder an den Fenstern. Foto: ATELIER BRÜCKNER, mac tanó |
Bocholt, kulturgeografisch an der Nahtstelle zwischen Niederrhein und westlichem Münsterland gelegen, ist eine der traditionsreichsten Textilstädte Deutschlands. Bis zum Ersten Weltkrieg boomte hier vor allem die Baumwollindustrie, die seinerzeit bis zu 80 Unternehmen in der Stadt verzeichnete. Die Spinnerei und Weberei Herding, zeitweilig größter Textilbetrieb der Kommune, gilt als typisches Beispiel für das Auf und Ab der Branche. Keimzelle war eine um 1870 gegründete Handweberei, die vorzugsweise die sog. typischen Bocholter Artikel produzierte, dies waren Futter-, Unterzeugstoffe und Bettbarchent. 1903 stellt der innovative Unternehmer Max Herding in seiner Fabrik die ersten englischen „Northrop-Webautomaten“ in Deutschland auf. Die Maschinen konnten automatisch leere Schussspulen gegen volle austauschen. Die Automatisierung führte zu höherer Produktivität, ein Weber bediente nunmehr 12 Webstühle statt vier. 1907 wurde die Weberei um eine Spinnerei erweitert. In der Spitzenzeit vor dem Zweiten Weltkrieg galt die nun als „Spinnweb“ titulierte Unternehmung mit 600 Webstühlen und fast 24.000 Spindeln zu den nationalen Großunternehmen der Textilindustrie. Einschneidende Ereignisse in der Unternehmenshistorie waren die Kriegszerstörungen 1943 und die mit Beginn der 1960er Jahre einsetzende europaweite Textilkrise. Mit Kammgarnspinnerei und Weberei konnte die Produktion nach den Krisenjahren unter neuen Eigentümern nur bis 1973 in reduzierter Form aufrecht erhalten werden.
Neue Ziele
Nachdem der Landschaftsverband 2004 das Areal für die Erweiterung seines Textilmuseums erwerben konnte, begann fünf Jahre später der Umbau unter der Leitung des international renommierten Architekturbüros „Atelier Brückner“, Stuttgart. Ziel war, den alten Industriekomplex als „Kulturfabrik“ zu nutzen und neu zu interpretieren. Ein hoher Museumsstandard und eine flexible Nutzung für Ausstellungen, Installationen oder Veranstaltungen stehen im Vordergrund. Vor allem soll Textilkunst in einer Textilfabrik zu sehen sein. Kunst, so die Konzeption, soll die klassischen Museen verlassen, alte Fabriken besetzen und sich somit bewusst auf einen Dialog zwischen Kunstobjekt und „gelebtem Raum“ mit all seinen Spuren und Geschichten einlassen. Dass ein derartig ungewöhnlicher Ort wie die historische Bocholter Spinnerei Künstler, Kreative, Kuratoren und Besucher anzuziehen vermag, ist kaum fraglich.
► “Beleben und neu erleben“ war die Maxime des Architektenbüros „Atelier Brückner“ bei der denkmalpflegerischen Aufarbeitung. Rund 5,9 Mio. Euro aus dem Konjunkturpaket II wurden für die energetische Sanierung und den Ausbau zum Industriedenkmal eingesetzt. Ein Schaulager, Veranstaltungsräume und restaurierte Spinnerei-Säle für Ausstellungen bilden den Rahmen für eine völlig neue Nutzung durch Kunst, Kultur und Kreativität.
► Das LWL-Industriemuseum ist ein Verbundmuseum an acht westfälischen Standorten der Industriegeschichte. 1979 vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) gegründet, ist es das erste und größte Industriemuseum in Deutschland. Es vermittelt, erforscht und bewahrt die Kultur des Industriezeitalters von den Anfängen bis zur Gegenwart. Neben Bocholt mit zwei örtlichen Museumsstandorten gibt es LWL-Industriemuseen in Petershagen, Lage, Waltrop, Bochum, Dortmund, Witten und Hattingen.
Claus P. Woitschützke
Kontakt:
LWL Landschaftsverband Westfalen Lippe -Industriemuseum
Westfälisches Landesmuseum für Industriekultur
TextilWerk Bocholt
Spinnerei: Industriestraße 5 | 46395 Bocholt
Weberei: Uhlandstraße 50 | 46397 Bocholt
Tel. 02871 / 21611 – 0
Öffnungszeiten:
DI – SO sowie an Feiertagen 10-18 Uhr
MO geschlossen
Fotos: TextilWerk LWL-Industriemuseum, Martin Holtappels
Fotos: Restaurant, Treppe ATELIER BRÜCKNER, mac tanó