Archiv 2020
DENKWÜRDIG
Ikonen aus der Depression
Fast alles Kulturelle, ob Ausstellungen, Theater, Konzerte, Bildungsprogramme, Tagungen, Vorführungen oder Performances: abgesagt, gestrichen, verschoben, verloren. Gab es das nicht schon einmal?
Arthur Rothstein photograph of a farmer and two sons during a dust storm in Cimarron County, Oklahoma, 1936. Foto Farm Security Administration FSA © Library of Congress, public domain (gemeinfrei) |
In der Tat, man muss nur sehr lange zurückblicken. Am 24. Oktober 1929, dem sogenannten „Schwarzen Donnerstag“, begann mit dem Börsenkrach an der New Yorker Wall Street ein ökonomisches Desaster, das in den Vereinigten Staaten als „Great Depression“ in die Geschichte einging. Und natürlich auch die Kultur schwer traf.
Walker Evans portrait of Allie Mae Burroughs (1936) Cotton Tenant Farmer Wife (Die Bäuerin Ellie Mae Burroughs, Frau eines Pächters in Alabama), August 1936. Foto Farm Security Administration FSA © Library of Congress, public domain (gemeinfrei)
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Für den Rest der Welt war es die Weltwirtschaftskrise, ein ökonomischer Kollaps, der in den Folgejahren verheerend rund um den Globus wütete.
Die fast biblischen „mageren Jahre“ dauerten bis 1938. Ihre Auswirkungen waren überall desaströs: Millionen Arbeitslose, rapider Werteverfall an den Börsen, rückläufige Produktionen, Obdachlosigkeit, Hunger und Verarmung weiter Teile der Bevölkerung.
In den Vereinigten Staaten legte die Regierung unter Präsident Franklin Delano Roosevelt eine Serie staatlich gesteuerter Wirtschafts- und Sozialreformen auf. Zwischen 1933 und 1938 sorgte dieser New Deal genannte Vorgang für eine Abmilderung der Krise. Und stellte gleichzeitig einen großen Umbruch in der Wirtschafts-, Sozial- und Politikgeschichte der USA dar. Um seine Landsleute in Lohn und Brot zu halten, veranlasste Roosevelt per Staatsvergabe den Ausbau von Infrastruktur.
Dorothea Lange photograph of an Arkansas squatter of three years near Bakersfield, California, 1935, Foto Farm Security Administration FSA © Library of Congress, public domain (gemeinfrei)
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Gesteuert wurde dies von der WPA, der Works Progress Administration. Sie beschäftigte Millionen von Arbeitssuchenden und ließ Brücken, Straßen, Bahntrassen, Staudämme, Schulen und andere öffentliche Gebäude errichten.
Und die Kunst und die Kultur? Sie litt wie auch heute in der Corona-Krise. Doch war man sich der immensen Bedeutung der Kunstproduktion und der Kulturschaffenden wohl bewusst.
Denn in den Vereinigten Staaten wurde, wie seinerzeit auch in anderen Ländern, der Kreativsektor mit staatlichen Förderprogrammen lebensfähig gehalten.
Eines dieser speziellen Kulturprogramme war das Federal Art Projekt (1935–1943), mit dem speziell die bildende Kunst finanziert werden sollte. Das Projekt war eine gezielte Hilfsmaßnahme für Künstler und Handwerker und versorgte in Spitzenzeiten mehr als 10.000 Kreative mit getakteten Aufträgen oder festen Arbeitsverhältnissen. Dies ermögliche ihnen das ökonomische Überleben und die künstlerische Weiterentwicklung.
Maler und Bildhauer schufen so im und für den öffentlichen Raum Wandgemälde, Skulpturen, Plakate, Werbegrafiken oder Kunsthandwerk. Zu den Profiteuren dieser Staatsaufträge gehörten auch spätere Künstlergrößen wie Jackson Pollock, Mark Rothko, Willem de Kooning wie auch Diego Rivera (mehr), zweimaliger Ehemann der mexikanischen Maler-Ikone Frida Kahlo.
Ein besonderes Beispiel gelungener Kunstförderung stellt bis heute die US-Fotografie aus der Zeit der „Großen Depression“ dar. Im Auftrag der Farm Security Administration (FSA), einer Abteilung des Landwirtschaftsministeriums, fotografierten über zwei Dutzend Künstler, überwiegend ausgebildete Fotografen, die auf diese Weise professionell weiterarbeiten konnten, das ländliche Elend während der Depressions-Ära. Mehrere renommierte Fotografen wurden so vom FSA-Projekt gefördert. Dorothea Lange, Walker Evans (mehr) und Gordon Parks sind drei der bekanntesten. Der Fotograf und spätere Filmregisseur, Schriftsteller und Komponist Gordon Parks zitierte das hilfreiche Wirken der FSA in seinem autobiografischen Roman „Trotz ungleicher Chancen“.
Dorothea Lange Migrant Mother in a migrant farmer camp, Nipomo Californien, 1936, Foto Farm Security Administration FSA © Library of Congress, public domain (gemeinfrei)
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Die FSA hatte die grundsätzliche Aufgabe, die Kleinbauern und die arme Landbevölkerung in der Krise zu beraten und zu unterstützen. Die bis heute erhaltene fotografische Dokumentation dieses Hilfsprogramms enthält zahlreiche Fotografien, die als Ikonen der Fotohistorie gelten, stilbildend waren und teilweise der Neuen Sachlichkeit zugeordnet werden.
Zu diesen bekannten Werken werden – um nur wenige zu nennen – Arthur Rothsteins Sandsturm-Foto aus Oklahoma gerechnet (siehe oben) wie vor allem Dorothea Langes „Migrant Mother“ von 1936. Es zeigt die Wanderarbeiterin Florence Owens Thompson, Mutter mehrerer Kinder, in einem Migranten-Camp in Kalifornien.
Ebenso berühmte Fotografien stammen von Walker Evans. 1936, auf dem Höhepunkt der amerikanischen Wirtschaftskrise, fotografierte Evans in Alabama die verhärmte Bäuerin Ellie Mae Burroughs, Frau eines Landpächters, sowie einen Straßenstand für Lebensmittel in der Nähe der Stadt Birmingham.
Walker Evans Roadside Stand near Birmingham, Alabama, 1936, Foto Farm Security Administration FSA © Library of Congress, public domain (gemeinfrei) |
Während die meisten Kunstwerke aus dem staatlichen Förderprogramm des New Deal verloren gingen, entsorgt oder zerstört wurden, stellt das FSA-Archiv ein einzigartiges sozialdokumentarisches Fotowerk aus einer Krisenzeit dar. Die Fotografien der Sammlung bilden eine der seltenen und sehr umfassenden bildlichen Aufzeichnungen des amerikanischen Lebens auf dem Lande in den Dreißigerjahren.
Eine staatliche Initiative, realisiert durch energisches und planvolles Handeln der Kulturpolitik, geschaffen von arbeitslosen oder von Arbeitslosigkeit bedrohten Künstlern. Ein Muster auch für heute?
K2M
► Literaturhinweis Gordon Parks „Trotz ungleicher Chancen“ (A Choice of Weapons) Autobiografie, aus dem Amerikanischen übertr. von Norbert Wölfl, Econ Verlag Düsseldorf/ Wien 1967.