rheinische ART
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rheinische ART 10/2014

Archiv 2014

BOHEMIEN AUS KÖLN
Chargesheimer

 

Er war so etwas wie der Inbegriff des Querdenkers und Querkopfs, so sah ihn jedenfalls das Museum Ludwig vor Jahren in einer Retrospektive. Ein bissiger, sarkastischer Kritiker und scharfsichtiger, ja bisweilen gnadenloser Dokumentar. Gleichwohl ein großzügiger Mensch, der es aber seiner Umwelt selten leicht machte. Der Kölner Künstler Chargesheimer, bürgerlich Carl-Heinz Hargesheimer (1924-1971), war ein Multitalent.

 

Eine Reminiszens an den Künstler: der Eingang zur Rekonstruktionsschau im Carlswerk. Chargesheimer klagte 1970 angesichts des zunehmenden Autoverkehrs: „Signalsysteme, Pfeile, Linien, Zebrastreifen markieren Funktion und Funktionierung, den Ersatz für menschliches Leben...“ Foto rART

 

Der Mann galt schon zu Lebzeiten als Non-Konformist, als Tausendsassa, der in vielen Künsten zu Hause war. Er fotografierte, schrieb, malte, führte Opernregie, stand selbst auf der Bühne oder entwarf Kostüme und Theaterkulissen. Eine reguläre Ausbildung in einer diesen Disziplinen hatte er - trotz Besuchs der Kölner Werkschulen - nicht, was allerdings niemanden störte. Wegen seines unkonventionellen Lebensstils, dem im Rheinischen der bescheidenen Fünfziger und Sechziger nicht jedermann etwas abgewinnen konnte, stempelte ihn ein Kunstkritiker treffend zum „Bohemien von Köln“ ab.

 

Lebenswerk Fotografie Seine wahre Passion war die Fotografie. Rund ein Dutzend Fotobücher brachte er heraus, teils zusammen mit Literaturgrößen wie Heinrich Böll und Martin Walser oder Journalisten wie Erich Kuby. Seine späten Fotoarbeiten waren von einem nüchternen Bildstil mit harten Schwarz-Weiß-Kontrasten geprägt, deren Ursprünge in der Stilrichtung der „Neuen Sachlichkeit“ wurzelten. Heute gilt Chargesheimer als bedeutender deutscher Nachkriegsfotograf. Zwei Ausstellungen erinnern an den einzelgängerischen Rheinländer, der Silvester 1971/72 vermutlich den Freitod wählte.

 

Einladung an Fotofans, ihre persönliche Kölner Stadtsicht an die Photoszene zu schicken. Bedingung: fotografiert gegen 5Uhr30! (mehr) Foto: The PhotoBookMuseum

 

Köln 5Uhr30 aus dem Jahre 1970 war sein letztes und, wie das Kölner PhotoBookMuseum (PBM) befindet, „bestes Fotobuch“. Es war der Sammler L. Fritz Gruber (mehr), der dem Fotografen auf der Photokina im selben Jahr eine Schau arrangierte, die sich von allen bis dato gesehenen völlig unterschied. Statt nur Fotos aus dem Buch Köln 5Uhr30 an die Wand zu hängen, ließ Gruber 32 übergroße Prints abziehen, die er auf Holzwänden wie eine Kulissenstadt aufstellte. Besucher konnten gleichsam durch Chargesheimers Bilder wandeln. Das Fotobuch Köln 5Uhr30 - längst vergriffen und bislang nicht neu aufgelegt - ist „...eine so grandiose wie radikale Hommage an jene Stadt, der sich Chargesheimer ... lebenslang in einer innigen Hassliebe verbunden fühlte“ (PBM).

     Trist , düster, menschenleer, oft autofrei und fast wohnfeindlich dokumentierte er das sich wandelnde Gesicht seiner Heimatstadt, stets morgens um 5Uhr30. Er lichtete ab, was die Gesellschaft trotz Wirtschaftsboom allgemein übersah, oder was mancher Amtsträger nicht sehen wollte. Phantasielose, unästhetische und betonlastige Gebrauchsarchitektur des schnellen Nachkriegsaufbaus, hässliche Baulücken, Verkehrsschneisen voller Regelsymbole. Derzeit präsentiert das temporäre PhotoBookMuseum im Rahmen der Photokina im Tiefgeschoss des Kölner Carlswerk zu diesem Fotoband eine Rekonstruktion der Ausstellung von 1970. Die Schau lädt zu einer neuen, interessanten Sicht auf das Köln der späten Wiederaufbaujahre ein.

 

Blick in die Rekonstruktion der 1970er-Ausstellung im Tiefgeschoss des Kölner Carlswerkes, einer ehemaligen Kupferkabelfabrik im Stadtteil Mülheim. Foto: rART

 

Wahrnehmung und Wahrheit  Die Großstadt Köln nahm die harte urbane Inventur eher gelassen hin, im Ruhrgebiet war dies zwölf Jahre zuvor völlig anders. Chargesheimers Bildband Im Ruhrgebiet, der 1958 erschien und den Heinrich Böll mit einem kritischen Text anreicherte, löste dort einen Skandal aus. Wohl kaum zuvor hatten zwei Kölner im Revier soviel Emotionen und Reaktionen provoziert, soviel Kritik und Zorn auf sich gezogen.

     Essens SPD-Oberbürgermeister Wilhelm Nieswandt empörte sich: „Wir sind es gründlich leid von Außenseitern in dieser Weise dargestellt zu werden...“ Es ging um das Image einer Region, die sich völlig anders sah, als es das Duo aus der Domstadt tat. Finstere Wohnstraßen, schäbige Wohnanlagen, Malochermilieu mit Tristesse und Schmutz allerorten. Kommunale Vertreter von Duisburg bis Dortmund beklagten die „pessimistische Voreingenommenheit“ und „beispiellose Einseitigkeit“ der Autoren und fragten konsterniert, wo das Schöne, das Liebenswerte ihres Lebensraums geblieben sei. Kurzum: Für das Ruhrrevier waren der spätere Literaturnobelpreisträger und der bohemienhafte Lichtbildner vom Rhein eine unheilige Bild-Text-Allianz eingegangen.

 

Chargesheimer Hinterhof-Idylle im Ruhrgebiet Foto: Ruhr Museum/ ©Rheinisches Bildarchiv

 

Das Ruhr Museum Essen lässt in einer Sonderausstellung Fotos des Bildbandes Revue passieren. Diese Schau geht inhaltlich über die umstrittene 1958er Veröffentlichung hinaus, denn sie zeigt aus dem 1.500 Negative umfassenden Revierbild-Fundus Chargesheimers auch bisher unveröffentlichtes Material. Dabei werden 250 Foto-Reprints, gut doppelt so viele wie im Buch, mit stilprägenden Ruhrgebiet-Bildbänden konfrontiert, die seit dem Chargesheimer-Band auf den Markt kamen. Denn der rheinische Fotograf hat, so das Ruhr Museum, eine ganze Schule von Bildreportagen und Fotoprojekten zum Ruhrgebiet inspiriert.

 

 Über Köln als Fotostadt und ihren Umgang mit der Photoszene äußert sich der Kölner Publizist und Kunstexperte Stefan Koldehoff in Die Zeit Nr. 36 vom 28. August 2014 kritisch. „Kölns Vergangenheit als glänzende Fotostadt liegt lange zurück. Von Chargesheimers Nachlass behielt die Stadt vor allem die Abzüge und Negative, viel von seinem so wichtigen Archiv aber wurde noch vor wenigen Jahren einfach weggeworfen. Nach wie vor sind die Fotosammlungen der Stadt auf viele Orte verteilt, und niemand fühlt sich wirklich zuständig.“
cpw

 

 

Die Ausstellung "#01 Chargesheimer Köln 5Uhr30, A Book-History reconstructed: Photokina 1970" läuft bis zum 03. Oktober 2014
The PhotoBookMuseum
im Carlswerk

Ehemaliges Kupferwerk
Schanzenstraße 6-20
51063 Köln-Mülheim
Geöffnet vom 19. August 2014 bis 03. Oktober 2014
Öffnungszeiten
DI - DO, SO 10 - 18 Uhr
FR, SA 10 – 20 Uhr
Café Lehmitz bis 23 Uhr

 

Die Sonderausstellung „Chargesheimer - Die Entdeckung des Ruhrgebiets“, wird bis zum 18. Januar 2015 gezeigt.
Ruhr Museum
Zollverein A 14 (Schacht XII, Kohlenwäsche)
Gelsenkirchener Straße 181
45309 Essen
Telefon 0201 / 24681 444
Öffnungszeiten
Täglich 10 – 18 Uhr

 

 

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