Archiv 2015
SEHNSUCHTSORT EUROPA
Flüchtlinge & Wir
Die Flüchtlingskrise an Europas Grenzen nimmt kein Ende. Eine Ausstellung in Zürich fragt: Ist diese Krise eine Ausnahmeerscheinung? Oder sind Flucht und Migration nicht viel eher eine Konstante der menschlichen Geschichte, insbesondere der Geschichte Europas?
Werner Bischof Die Füße eines Vertriebenen Bonn, 1946. © Werner Bischof/ Magnum Photos
Erich Lessing Flüchtlinge an der Österreichisch-Ungarischen Grenze / Andau, Österreich 1956 Foto © Erich Lessing / Magnum Photos
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Antworten auf diese Fragen versucht die Zürcher Photobastei zu geben. Unter dem Thema „Flüchtlinge & Wir“ zeigt das Haus in einer kuratierten Gruppenausstellung Werke von mehr als einem Dutzend namhafter Fotografen.
Elend im Bild Es sind markante, eindringliche Fotografien. Wie etwa die Schwarz-Weiß-Aufnahme des schweizerischen Reportage-Fotografen Werner Bischof (1916-1954) aus dem Jahr 1946, die in Bonn entstand. Sie trägt den Titel „Die Füße eines Vertriebenen“. Einem Schuh fehlt der Schnürsenkel, von dem anderen ist nur die Sohle geblieben. Und doch zeigt diese Nachkriegsfotografie aus dem notleidenden Deutschland viel mehr. Bischof, der dafür bekannt war, dass er stets hohe Ansprüche an die Inszenierung seiner Bilder stellte, zeigt die Füße eines Menschen, der alles verloren hat. Doch im Schein des Lichts spricht auch Hoffnung aus ihnen: Es sind diese Füße, die ihren Besitzer auch in eine bessere Zukunft tragen können.
Stille Trauer drückt das Flüchtlingsbild des Österreichers Erich Lessing (*1923) aus. Lessing, der bereits fünf Jahre für Magnum arbeitete, fotografierte die erschöpften Menschen im Zusammenhang mit dem ungarischen Volksaufstand 1956 am burgenländischen Grenzübergang Andau.
Ort der hochaktuellen Schau ist die renovierte ehemalige Zürcher Hochschule der Künste am Sihlquai 125, die als neues Fotografie-Zentrum unter der Bezeichnung Photobastei 2.0 im August eröffnet wurde. Bereits im Vorjahr hatte die temporäre Photobastei mit Fotoausstellungen als `Hochhaus für Fotografie` in Zürich Tausende Besucher angezogen.
Herausragend ist im Rahmen der Gruppen-Präsentation ist die Ausstellung „Odyssee Europa – Flucht und Zuflucht in Europa seit 1945“ mit Fotografien aus dem Fundus von Magnum Fotojournalisten.
Die bemerkenswerte Ausstellung mit dem historischen Blick war bereits im Berliner ProjektZentrum und in der Stiftung Mercator Essen zu sehen. „Odyssee Europa“ zeigt 50 Bilder zum Thema Flucht und Zuflucht, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind. Sie beginnt in Deutschland im März 1945 und reicht bis zur Situation heutiger Kriegsflüchtlinge in Syrien, im Irak oder in der Ukraine. Zwölf junge Journalisten der Zeitenspiegel-Reportageschule Günter Dahl in Reutlingen haben die Geschichten der Bilder recherchiert und aufgeschrieben.
Miklòs Déri Ostbahnhof Keleti, Budapest. Ausgestattet mit einem einfachen grauen Leintuch und einem Stativ geht Miklòs Déri in einen Park in der Nähe des Ostbahnhofs Keleti und fragt die Flüchtenden, ob sie sich porträtieren lassen möchten. Fotografie im Rahmen der Ausstellung „Flüchtlinge & Wir“. Foto © Miklòs Déri |
Fast 70 Jahre nach Bischofs Bonner Aufnahme ist das Thema, dem er sich gewidmet hat, aktueller denn je: Laut UN-Flüchtlingshilfswerk sind derzeit mehr als 50 Millionen Menschen auf der Flucht. So viele wie nie zuvor.
Sie sind Opfer von Kriegen oder Naturkatastrophen, sie fliehen vor Diskriminierung, Folter oder Hunger. Die Mehrheit lebt als „Binnenflüchtlinge“ im eigenen Land. Doch viele müssen ihre Heimat verlassen, wenn sie überleben wollen. Oder gehen, weil sie Zuhause keine Zukunft für sich sehen. Ihr Ziel heißt oft: Europa.
Jean Revillard Patras. Im Hafen Patras versuchen Flüchtlinge und Migranten in Lastwagen zu gelangen und als blinde Passagiere die Überfahrt nach Italien zu schaffen. Es ist das Porträt des Olivenbaum, der die Welle der Flüchtenden, den Strom der Migrierenden sinnbildlich festhält. Im Park in Patras schläft unter demselben Olivenbaum jede Nacht jemand anderes... Fotografie im Rahmen der Ausstellung „Flüchtlinge & Wir“. Foto © Jean Revillard |
Und Europa? Versucht – wie die Kuratoren der Ausstellung im Katalog betonen - sich abzuschotten. Es scheine, „als habe der Kontinent längst vergessen, dass Flucht und Zuflucht die eigene Geschichte entscheidend geprägt haben; dass gerade die Flüchtlingsdramen des 20. Jahrhunderts bis heute im Leben vieler Europäer nachwirken“. Das Leid von Flucht, Vertreibung und Diskirminierung ist, wenn man so will, ein ur-europäisches Phänomen.
Die Fotografen der legendären Agentur Magnum Photos, die zwei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs von Robert Capa (mehr), George Rodger, David Seymour und Henri Cartier-Bresson (mehr) gegründet wurde, haben über Jahrzehnte die Geschichten von Unruhen, Krieg, Flucht und Zuflucht auf der ganzen Welt festgehalten. Ein Blick in das Magnum-Archiv macht eine neue Sicht auf das Leid der Flüchtlinge von heute möglich. Und erinnert daran, dass das Schicksal der Flucht jeden treffen kann – und jeden betrifft.
K2M
► Magnum Photos wurde 1947 als unabhängige Fotoagentur in New York gegründet. Die Agentur steht für modernen, unabhängigen Fotojournalismus und hat Niederlassungen in Paris, London und Tokio. Bis heute haben etwa 100 Fotografen Magnum Photos angehört.
Die Ausstellung „Odyssee Europa – Flucht und Zuflucht in Europa seit 1945“ wird im Rahmen der Gruppenausstellung „Flüchtlinge & Wir“ bis zum 27. Dezember 2015 gezeigt.
Photobastei 2
Verein PhotoCreatives
Sihlquai 125
CH 8005 Zürich
Tel +41 44 240 2203
Öffnungszeiten
DI, MI 12-21 Uhr
DO, FR, SA 12-24 Uhr
SO 12-18 Uhr