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rheinische ART 11/2023

Archiv 2023

GELESEN
Mit Kraftbrühe durch China


Was haben an der Rheinschiene die Häfen von Duisburg, Neuss/Düsseldorf und Köln mit einem Mann namens Ferdinand von Richthofen zu tun? Mehr, als selbst Regionalkundler zunächst vermuten.

 

Thomas Child Karawane im 19. Jahrhundert auf der Seidenstraße in China. Die Kamele wurden u.a. verwendet, um Kohle und Kalk aus dem westlichen Hügelland in die Städte sowie Waren zwischen Peking und der Mongolei zu transportieren.  Bildquelle Foto © Thomas Child / Stephan Loewentheil Historical Photography of China Collection / Courtesy of the Sidney Mishkin Gallery

 

Die drei Binnenhäfen bilden einen Verbund von Eisenbahn-Endpunkten der berühmten Seidenstraße. Jener legendären Handelsroute, die von Marco Polo bereist und geschildet wurde und die seit über zehn Jahren als moderne „Neue Seidenstraße“ – als „Belt and Road-Initiative“ – eine vielgenutzte Wirtschaftsachse zwischen Westeuropa und dem Reich der Mitte darstellt.

 

Containerzug auf der Neuen Seidenstraße bei Chongqing, auf dem Weg zum Niederrhein. Seit 2011 existiert diese China-Europa-Frachtzugverbindung. 2014 besuchte Chinas Staatspräsident Xi Jinping den Bahnknoten Duisburg. Bildquelle © Generalkonsulat der Volksrepublik China Düsseldorf

 
Wöchentlich verkehrten bis zum Februar 2022 zwischen dem Niederrhein und China rund 60 Container-Züge, und zwar paarig. Was heißt: Den eingehenden Güterzügen aus China stand eine ebenso hohe Zahl nach China gegenüber. Für Logistiker ein höchst erstrebenswerter, da erlösträchtiger Zustand. 

     Mit dem Russland-Ukraine-Krieg hat sich das Bild aber verändert. Um fast ein Drittel sind die über Russland, Weißrussland und Polen im Transit verlaufenden Bahnverkehre der Neuen Seidenstraße eingebrochen. Zwar verkehren die Güterzüge nach wie vor planmäßig und schaffen die rund 10 000 Kilometer in zwei Wochen. Der erheblich längere Seeweg wird aber aus Respekt vor drohenden Sanktionen und Versicherungsrisiken von einigen Handels- und Logistikunternehmen derzeit bevorzugt.

 

Ferdinand von Richthofen (1833–1905). Bildquelle © Wikipedia gemeinfrei

 

Und der aus schlesischem Adel stammende Ferdinand von Richthofen? Der Geologe, Geograf, Kartograf und Forschungsreisende gehörte zu den führenden Wissenschaftlern im 19. Jahrhundert, die China bereisten, dort nach Rohstoffen suchten und die Erschließung des Landes durch genaue Kartographie vorantrieben.

     Richthofen war nicht nur ein Pionier der Länderkunde. Er war Begründer der modernen Geomorphologie, der Lössforschung und er lokalisierte die gewaltigen Erz- und Kohlevorkommen Chinas. Von ihm stammt der erste „wissenschaftlich fundierte Originalbericht“ über das Reich der Mitte und er ebnete dem von ihm popularisierten Begriff „Seidenstraße“ den Weg in die Öffentlichkeit – es war der Beginn der Globalisierung.

 

Der heute fast nur noch Geografie-Fachleuten bekannte Richthofen erreichte nie den Status eines Marco Polo und den des genialen deutschen Wissenschaftlers und Weltreisenden Alexander von Humboldt. Aber Richthofen war es, dessen Studien und Publikationen dafür sorgten, dass die alten Karawanenwege als Neue Seidenstraße zu dem festen wirtschaftsgeografischen und -politischen Terminus avancierte und sich global durchsetzte. Selbst in China!

     Richthofen definierte die euroasiatische Landverbindung geologisch: als einen Landschaftsgürtel von fruchtbarem Lössboden, der sich von China bis in die rheinisch-westfälischen Börden ziehe und unter dem riesige Kohle- und Erzvorkommen lägen.

 

Buchcover Bildquelle © Die Andere Bibliothek, Berlin 2023

 

Dies und vieles mehr kann einem jüngst erschienenen Sachbuch entnommen werden, verfasst von dem China-Kenner Marcus Hernig. Der Sinologe breitet die Lebensgeschichte des eigenwilligen Mannes spannend und facettenreich aus und fesselt damit den Leser.

     Denn Hernig gelingt es, die uralten Wechselbeziehungen zwischen Ostasien und Europa, die politische Entwicklung des Kaiserreichs China und dessen Bestreben, sich zu industrialisieren, sowie die kolonialen Einflüsse und Denkweisen jener Epoche verständlich darzustellen.

 

Ferdinand von Richthofen erforschte in teils abenteuerlichen wie lebensgefährlichen Reisen Ost- und Zentralchina und ernährte sich dabei nicht etwa von der lokalen Küche.

      Er bevorzugte, so skurril es klingen mag, Liebig´s Fleischextrakte, die er in großen Mengen selbst auf den schwierigsten Hochgebirgspassagen und in den endlosen Steppen und Wüsten stets bei sich führte und in heißem Wasser auflöste. Die Kraftbrühe hatte der deutsche Chemiker Justus von Liebig gerade zwei Jahrzehnte zuvor auf den Markt gebracht.

 

Werbung für Liebig Fleischextrakte um 1890 mit dem Hinweis „Nur echt wenn jeder Topf den Namenszug „J.v.LIEBIG“ in blauer Schrift quer durch die Etiquette trägt“. Bildquelle © Liebig´s Company Antwerpen

 

Freiherr von Richthofen war nicht nur in Sachen Ernährung extravagant. Er galt als Vertreter alter Schule, wie Autor Hernig amüsant schildert. Mit Krawatte, Anzug und der Geologentasche war er tags unterwegs, sein Abendbrot war die Liebig-Suppe, und dazu die eine oder andere Flasch Wein deutscher Provenienz. Wurde das politische Umfeld in China zu gefährlich, die Expeditionen zu zehrend, das Budget zu schmal, verbrachte er erholsame Wochen in Japan, das sich gerade dem Westen öffnete.
     Aber der Weg zum gefeierten Forscher und Geografen war steinig. Als jüngstes Mitglied der legendären preußischen Eulenburg-Expedition gelangte Richthofen 1860 mit 27 Jahren erstmals nach Ostasien und Shanghai – doch herein nach China kam er nicht. Dennoch war er sich sicher: Hinter den verschlossenen Türen lag die Herausforderung seines Lebens. Niemand hatte bis dato das sagenhafte Reich der Mitte systematisch bereist und seine Bodenschätze erkundet.

 

Werbung für Liebig Fleischextrakte auf einer französischer Sammelkarte. Bildmotiv: chinesischer Kaiserpalast. Die farbenfrohen Bilder wurden als Packungsbeilage ab 1873 in verschiedenen Ländern ausgegeben und in Sammelalben eingeklebt. Bildquelle © Wikipedia gemeinfrei  

 

Die Erinnerung an die alten Handelswege, auf denen seit alters her Seide transportiert worden war, mochte ihn wohl inspirierte haben. Die alten Routen mussten wiederbelebt und zu Handelswegen für die Industrienationen des Westens werden, war seine Überlegung. Richthofen entdeckte das magische Wort von der „Seidenstraße“ wieder und ließ es 1877 in sein wissenschaftliches Werk einfließen.

     Die von ihm in China lokalisierten Bodenschätze, darunter vor allem Kohle, versprachen Reichtum. Es gelang ihm, Finanziers zu finden, die von den ökonomischen Chancen einer Erschließung Chinas überzeugt waren und seine Forschungsreisen bezahlten. Zwischen 1868 und 1872 wagte sich Richthofen immer tiefer in das damals noch weitgehend unbekannte Innere Chinas vor, bereiste 13 Provinzen und gab ihnen ein Abbild in Form von Karten. Er entdeckte jene Rohstoff-Reichtümer, die erst Europa und – viel später – China selbst mächtig machen sollten.

     Buchautor Marcus Hernig weist interessanterweise darauf hin, dass Ferdinand von Richthofen zwei Gesichter hatte: das des passionierten Entdeckers, Geografen und Hochschullehrers und das des imperial denkenden Deutschen, der für das zeitgleich entstandene Deutsche Kaiserreich neues Territorium erschließen wollte.

 

Thomas Child Der Große Kanal, den auch Richthofen befuhr. Der Nord-Süd-Wasserweg war in der Qing-Dynastie von überragender Bedeutung. Der britische Fotograf und Ingenieur Child dokumentierte ab 1870 das Leben in China für den Imperial Maritime Customs Service. Bildquelle Foto © Thomas Child / Stephan Loewentheil Historical Photography of China Collection / Courtesy of the Sidney Mishkin Gallery

 

Eine in Summe sehr lesenswerte, spannende und wissensreiche Publikation. Hernig ist es gelungen, eine fast vergessene Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts zu würdigen und einem derzeit hochaktuellen Thema eine tiefgehende historische Sicht anzufügen: dem expandierenden geopolitischen Einflusses Chinas in Form seiner globalen Infrastruktur-Initiative „Neue Seidenstraße“.

      Eine offenbar lange völlig unterschätzte Entwicklung, wie der Buchautor in einer Lesung bei der Deutsch-Chinesischen Gesellschaft in Neuss betonte. Richthofen war auch ein Visionär. Denn er sah kommen, was China unter der Führung von Xi Jinping seit Jahren vorantreibt: die Belebung der alten Handelsstraßen. Der Freiherr vorausschauend: „Sie werden Städte bauen, neue Straßen und sogar Eisenbahnen. Die Kohle und die Rohstoffe, die weder Russen noch andere Menschen aus dem Westen zu Tage gefördert haben, werden die Chinesen zu Tage fördern.“
Claus P. Woitschützke


Es gibt noch eine weitere Verbindung des Forschers und Geografen, der im Übrigen mit dem Weltkrieg-Eins-Flieger Manfred von Richthofen (Der Rote Baron) verwandt war, mit dem Rheinland. Die Bonner Universität berief ihn 1875 an den neu gegründeten Lehrstuhl für Geografie. Seine Antrittsvorlesung titelte „Die centralasiatischen Seidenstrassen“, also im Plural. Richthofen hatte längst erkannt, dass es mehrere Karawanenrouten durch die Wüsten und Hochländer des Riesenreiches nach Westen gab.

 

Prof. Dr. Marcus Hernig (*1968) studierte Germanistik, Sinologie und Geschichte in Bochum und Nanjing. Er lebt bereits seit 1992 in China, seit 1998 in Shanghai, wo er zur Seidenstraße und den deutsch-chinesischen Beziehungen lehrt. Hernig ist ferner Experte für die Neue Seidenstraße bei Germany Trade and Invest (GTAI). Zuletzt erschien von ihm Die Renaissance der Seidenstraße. Der Weg des chinesischen Drachens ins Herz Europas (2018). In der Anderen Bibliothek veröffentlichte er 2012 Eine Himmelsreise. China in sechs Gängen (Band 330, Extradruck im Juli 2022).

 

Literaturhinweis:
Marcus Hernig: Ferdinand von Richthofen Der Erfinder der Seidenstrasse. 350 Seiten, Verlag Die Andere Bibliothek, Band Nummer 451. Berlin 2023. ISBN 978-3-8477-0451-5. Preis 44 Euro

 

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