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rheinische ART 10/2024

GELESEN
Von Ärmelaufkremplern und Zupackern


75 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Davon 40 Jahre als „Bonner Republik“. Ein großartiger Bildband erinnert an eine Epoche voller Optimismus, Dynamik und frischem Wind.


 

Karl Hugo Schmölz Eine moderne Betriebstankstelle eines VW-Händlers in Köln, 1953. Foto © Karl Hugo Schmölz, Bildquelle © Greven Verlag Köln 2024

 

Sind termingerechte Erinnerungen an diese Zeit angebracht? Ja, unbedingt! Sollte es eine sehnsuchtsvolle Rückschau auf die Jahre mit Bonn als Hauptstadt sein? Nein, nicht unbedingt! Bekannt ist schließlich, dass bei Rückblicken manches verklärt wird und ein wenig Nostalgie sich gerne breit macht. Einer solchen nostalgischen Versuchung unterliegt der soeben erschienene Bildband „Die Bonner Republik. Vier Jahrzehnte Westdeutschland 1949-1990“ nicht. Und das ist wohltuend.

 

Erich Lessing Der Berliner Reichstag 1955. Aufgrund des Viermächtestatus kam Berlin nicht als Regierungssitz der Bundesrepublik in Frage. Foto © Erich Lessing, Bildquelle © Greven Verlag Köln 2024

 
Es war nämlich nicht alles herausragend in der sogenannten guten alten Bonner Republik. Und schon gar nicht war sie eine „fade, von butzenscheibiger Gemütlichkeit geprägte Gesellschaft“, wie die Welt am Sonntag es treffend beschrieb.
     Daher ist es spannend, in einem Bildband über diesen Zeitraum Deutschlands mit seinem vielfältigen Leben, den kolossalen ökonomischen Entwicklungen, aber auch Krisen und gesellschaftlichen Gegensätzen zu stöbern.
 

Buchcover Unter Verwendung eines Fotos von Will McBride. Jugendliche mit einem Vespa-Roller, 1960. Foto © Greven Verlag Köln 2024

 

Hansherbert Wirtz Einweihung der Kölner Severinsbrücke (7. November 1959) mit Josef Kardinal Frings, Bundeskanzler Adenauer, Oberstadtdirektor Max Adenauer und Oberbürgermeister Theo Burauen (vorne v.l.). Foto © Hansherbert Wirtz, Bildquelle © Greven Verlag Köln 2024

 

Genau platziert zum 75-jährigen Jubiläum der Bundesrepublik bietet dieses bildgewaltige Werk aus dem Kölner Greven Verlag Fotografien und Texte über vier Jahrzehnte Politik, Wirtschaft, Kultur und Sport, aber auch über Alltagslast, Studentenunruhen und Terrorismus.

Ausgerechnet Bonn, diese doch so beschauliche mittelgroße Beamten- und Studentenstadt am Rhein, wurde das politische Zentrum der 1949 gegründeten Bundesrepublik. Das im Zuge der Rheinromantik beliebte Touristenstädtchen, ansonsten auch als Altersruhesitz geschätzt, war alles andere als eine repräsentative Hauptstadt für ein bedeutendes Land in Europa.
     Heute ist klar, dass Bonn der Ausgangspunkt einer beispiellosen Erfolgsgeschichte war: Wiederaufbau und Wirtschaftswunder. Die Deutschen gehörten mit der transatlantischen Westbindung wieder dazu. Es gab das Ringen mit der Nazi-Vergangenheit, auch verstörende Studentenrebellionen und die Herausforderung des radikalen RAF-Terrorismus. Dennoch: Es gab einen sich stets mehrenden Wohlstand, den sich die Menschen in Deutschand West erarbeiteten.
 
 

Elvis Presley, der seinen Militärdienst in der Bundesrepublik leistete, hilft 1959 beim Umsetzen eines Kriegerdenkmals in Steinfurth, heute ein Stadtteil von Bad Nauheim. Foto o.N./ Bildquelle © Greven Verlag Köln 2024


Alles das zusammengefasst in einem eindrucksvollen Werk von den Fotohistorikern Reinhard Matz (*1952) und Wolfgang Vollmer (*1952). Der renommierte Journalist und langjährige Politikchef der Süddeutschen Zeitung Heribert Prantl (*1953) lässt dazu in sachkundigen und gewitzten Essays die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der vier Jahrzehnte Revue passieren. Und zwar für die gesamte Bundesrepublik, von Flensburg bis Garmisch und von Aachen bis Nürnberg.
 

Jupp Darchinger Kinder ziehen sich für einen Groschen Bonbons aus einem Automaten, Bonn 1955. Foto © Jupp Darchinger, Bildquelle © Greven Verlag Köln 2024

 

Heribert Prantl mit Blick auf die Deutschen jener Zeit: „Die Gestaltung und Finanzierung der Wiedervereinigung war der letzte große Sieg der Generation der Ärmelaufkrempler und Zupacker. Mit dem Wiederaufbau im Westen hatte ihre große Lebensleistung begonnen, mit dem Wiederaufbau im Osten ging sie zu Ende.“
     Es ist ein kluges, gekonnt komponiertes und faszinierendes Bild- und Textbuch mit vielen bislang unveröffentlichten Fotos teils bekannter, auch berühmter Fotografen.
     Dass dies so gelungen ist, mag auch an dem Autorenteam liegen. Alle drei wurden Anfang der Fünfzigerjahre geboren und sind sozusagen Zeitzeugen, Kinder der ersten Stunden, wenn man so will. Aufgewachsen und geprägt von den Jahren des Provisoriums, des Aufbaus, des ersten bescheidenen Wohlstands bis hin zum Ende der deutsch-deutschen Teilung.
 
Die Autoren liefern einen breit gespannten Blick auf schwarz-weiße und bunte Fotografien, eine authentische Zeitreise mit 338 Bildern zum Staunen, Schmunzeln, nachdenklichem Erinnern und Selbstbesinnen, hier und da auch zum fassungslosen Wundern über die ganz andere deutsche Welt damals.
     Die Bilder erzählen vom Wohnen in Nissenhütten und Kochen in Simpelküchen, von harter Feldarbeit der Nachkriegsjahre. Aber auch vom Mauerbau,  vom Aufschwung mit vollen Schaufenstern, modischen Neuheiten und den ersten VW-Cabrios. Und sie rufen historische Schlüsselmomente im Bonner Parlament in Erinnerung, mit Adenauer, Brandt und Kohl. Und auch, wie aus der Bundeshauptstadt Bonn die Bundesstadt Bonn wurde!
 

Wilhelm Bertram Am 13. November 1975 gastierte der ostdeutsche Liedermacher Wolf Biermann in der Kölner Sporthalle. Drei Tage später wurde er ausgebürgert und durfte die DDR nicht mehr betreten. Foto © Wilhelm Bertram, Bildquelle © Greven Verlag Köln 2024

 

So manche Kulturepisode ist bereichernd. Der US-Soldat Elvis Presley in Bad Nauheim, die Beatles in Hamburg, Wolf Biermann in Köln oder Günter Grass unter Politgrößen in Bonn. Auch an einen scharfzüngigen Kabarettisten der Fünfziger wird gedacht, an Wolfgang Neuss. Zusammen mit seinem Kollegen Wolfgang Müller landete er einen Gassenhauer nach dem anderen. So 1958 das „Lied vom Wirtschaftswunder“, das mit Ironie und Sarkasmus ein Spiegelbild der Zeit lieferte. Textprobe:


Jetzt kommt das Wirtschaftswunder
Jetzt kommt das Wirtschaftswunder

Jetzt gibt´s im Laden Karbonaden schon und Räucherflunder

Jetzt kommt das Wirtschaftswunder

Jetzt kommt das Wirtschaftswunder
Der deutsche Bauch erholt sich auch und ist schon sehr viel runder
Jetzt schmeckt das Eisbein wieder in Aspik
Ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg

 

Wen das meisterhafte Musikstück in Gänze interessiert, sei auf den Link unten verwiesen. Was die Texte im Buch anbelangt: Namhafte Literaturgrößen ergänzen die Fotografien. So Martin Walser, John le Carré, Günter Grass oder Günter Wallraff. Und auch die US-amerikanische Romanautorin Erica Jong ist vertreten. Wer mag sich schon daran erinnern, dass sie mit ihrem autobiografisch geprägten Erotik-Bestseller „Angst vorm Fliegen“ 1973 weltberühmt wurde, den Feminismus befeuerte und von 1966 bis 1969 in Heidelberg lebte? Wie sie dort während der Bonner Jahre diese Stadt und die Deutschen wahrnahm, das ist lesenswert.

 

Ludwig Binder Sonnenbaden an der Mauer in West-Berlin, 1968. Foto © Ludwig Binder, Bildquelle © Greven Verlag Köln 2024


Über Deutschlands Zeit von der Gründung im Bonner Naturkundemuseum Koenig bis zum Mauerfall und zur Wiedervereinigung: Die unterhaltenden wie auch historisch-sachlich vertiefenden und gut abgestimmten Texte, die gelegentlich gar berührenden Fotografien aus einer Zeit, die heute als „Die Bonner Republik“ bezeichnet wird, stellen ein kurzweiliges, erstklassiges Geschichtswerk dar. Ein wenig Sentimentalität sei dann doch erlaubt!
rART/cpw

 
Der Greven Verlag bietet diesen gelungenen, überaus sehen- und lesenswerten Bildband zu einem Preis an, den man fast unter die Kategorie „Dumping“ einstufen kann. Zumal wenn man feststellt, was sonst auf dem Buchmarkt für Preise zwischen 24,99 und 49,99 Euro so alles angeboten wird.

 

Literaturhinweis:
Heribert Prantl, Reinhard Matz, Wolfgang Vollmer (Autoren) „Die Bonner Republik. Vier Jahrzehnte Westdeutschland 1949-1990". Hardcover, repräsentativer Leineneinband mit Schutzumschlag im Großformat. 336 Seiten, 338 Fotografien. 1. Auflage Greven Verlag Köln 2024. ISBN 978-3-7743-0974-6. Preis 50 Euro


Zum Thema Wirtschaftswunder könnten Sie folgende zeitgenössischen Musikwerke interessieren:


► Wolfgang Neuss (1923–1989) und Wolfgang Müller (1922–1960). Das Lied vom Wirtschaftswunder (Musik: Franz Grothe/ Text: Günter Neumann) aus dem Film „Wir Wunderkinder“ von 1958. Youtube hier

 

► Hazy Osterwald-Sextett: Konjunktur-Cha-Cha, 1960. Musik/Text: Kurt Feltz, Paul Durand, Francis Lemarque. Youtube  hier 

 

Zitierquelle : Verstaubt ? Von wegen. In: Welt am Sonntag Nr. 40 vom 6. Oktober 2024 S. 6

 

 

 

 

 

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