Archiv 2022
POLITIK-COMIC
Bonn vor dem „Deutschen Herbst“
Wenn junge westdeutsche Bürgerschrecks auf bräsige, etablierte Spießbürger mit Kriegsneurose treffen, RAF-Sympathisanten und alte Seilschaften dazu kommen, kann dies ein Gemisch mit hohem Unterhaltungswert sein. Und gut für einen ungewöhnlichen Comic.
Hauptfigur Karl Martin trifft an der Unfallstelle ein. Szene aus Jennifer Daniel Das Gutachten, Seite 101. Bild © Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2022 |
Die Düsseldorfer Zeichnerin Jennifer Daniel hat die Mixtur in eine großartige Graphic Novel mit dem Titel Das Gutachten eingebunden. Leser und Bilderschauer werden mitgenommen in das rheinische Milieu der sogenannten Bonner Republik im Sommer des Jahres 1977.
Buchcover Bild © Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2022
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Dies ist eine Zeit, in der die Stadt Bonn – in welcher die Story spielt - noch Bundeshauptstadt war, die Wiedervereinigung illusorisch, Helmut Schmidt als Bundeskanzler regierte und die krisengeschüttelte Gesellschaft am Rande einer Terror-Hysterie stand.
Es war ein brutales, von politisch motivierter Kriminalität geprägtes Jahr, dass die Öffentlichkeit verunsicherte. Den Höhepunkt erreichte in jenem Jahr der Terror gegen den Staat in den 44 Tagen, die mit der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer in Köln durch die linksextreme, terroristische „Rote Armee Fraktion“ (RAF) begann und mit der Ermordung des Wirtschaftsfunktionärs endete. Die Terrorphase ging unter dem Begriff „Deutscher Herbst“ in die Geschichte ein.
Passt eine solche Zeit in einen Comic? Durchaus! Jennifer Daniel zeichnet nämlich fein austariert das Bild des westdeutschen Bürgertums 1977, mit seinen Generationen- und Gesellschaftskonflikten. Die Autorin liefert mit Das Gutachten nicht nur einen veritablen Politkrimi, sondern eben auch ein Gesellschaftsbild der Deutschen vor 45 Jahre.
Dies in einem bemerkenswerten Grafikstil und einer schablonenhaften, an Aquarellmalerei erinnernde Bildästhetik mit großer visueller Ausdruckskraft. Die findet man im Comic-Genre in der Form selten.
Offen oder versteckt beinhaltet Das Gutachten manche zeittypischen Accessoires der Siebziger: HB-Zigaretten, Manschettenknöpfe, Boulevardblatt Express, Kölsch, Bücherschrankwand und Renommier-Porsche, Studenten-2CV, Polaroid-Kamera und Kanzlerfest im Bonner Theater. Und natürlich: Örtlichkeiten und Immobilien mit gutem Wiedererkennungswert: Uni-Hauptgebäude, Museum Alexander König, Koblenzer Tor, Langer Eugen, Hofgarten oder altes Rathaus.
Beflissen am Seziertisch. Szene aus Jennifer Daniel Das Gutachten, Seite 81. Bild © Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2022 |
Protagonist der fiktiven Geschichte ist ein modisch bebrillter kleiner Angestellter in der Funktion eines Fotoassistenten in der Bonner Rechtsmedizin namens Karl Martin. Der Mann ist im besten Alter, Familienvater mit geduldiger Gattin und leicht renitentem Sohn Peter, der was gegen Militär hat und der „Pflicht an der Waffe“ nicht nachkommen will.
Karl Martin ist dem Alkohol zugetan und setzt zur Vorsorge auf einen ständig verfügbaren Flachmann. Und das ist auch sein Problem. Hinter Bier und Schnaps verbirgt sich, wie man wohl heute sagt, eine „posttraumatische Belastungsstörung“ – seine Erlebnisse als achtzehnjähriger Wehrmachtssoldat an der Normandie-Front in Frankreich holen den Veteranen immer wieder ein.
Bonner Kanzlerfest am 1. Juli 1977. Helmut und Loki Schmidt empfangen Gäste aus Politik, Medien und Wirtschaft. Wenig später stürzten RAF-Attentate das Land in eine Krise. Szene aus Jennifer Daniel Das Gutachten, Seite 46. Bild © Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2022
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Zur Rahmenhandlung: Auf einer Landstraße kurz hinter Bonn ereignet sich in einer Sommernacht des Jahres 1977 ein Autounfall, bei dem nicht allein Blech, sondern Welten aufeinanderstoßen.
Die Studentin Miriam Becker, eine alleinerziehende junge RAF-Sympathisantin, stirbt dabei in ihrem roten „2CV“. Vom Unfallverursacher fehlt jede Spur.
Karl Martin findet auf der Heimfahrt, vom Alkohol benebelt, die Frau, deren Tod ihm keine Ruhe lässt. Er beginnt, irgendwie schuldbewusst, auf eigene Faust zu recherchieren und kommt dabei alten, politisch gut verflochtenen Seilschaften ins Gehege, deren Handwerkszeuge Vertuschung und Machtmissbrauch sind. Karl Martin lässt nicht davon ab, genauer hinzuschauen, sichert Beweise, sucht nach Tatbeteiligten ... und setzt am Ende eine mutige konsequente Entscheidung dagegen.
Eine schöne Zeichnung auf der Rückseite des Bandes fast es zusammen. Karl Martin ist der Mann im Volkswagen: Ein Mann voller Zweifel, mit einem Koffer voller Beweise und einem Flachmann voller Korn.
Im Nachwort gibt die Grafikdesignerin und Illustratorin Jennifer Daniel (*1986) einen Blick auf ihre Ideenfindung für Das Gutachten.
Im Nachlass ihres Großvaters hatte sie eine Kiste mit Fotos gefunden, „die nicht ihren Weg in eines der Familienalben gefunden hatte. Unter diesen Schnappschüssen entdeckte ich auch einige Bilder, die meinen Opa bei seiner Arbeit als Assistent am Bonner Rechtsmedizinischen Institut zeigen. Eine dieser Aufnahmen, datiert auf das Jahr 1977, bildete den zeitlichen Rahmen und den Anfang der Geschichte.“
Gleichwohl, so betont Daniel, erzähle sie keine Familiengeschichte, „sondern einen frei erfundenen Krimi“. Opas Fotokollektion bildete die Zeichenvorlage. Eine spannende, teils überraschende Story mit viel rheinischem Colorit, ohne Sentimentalität erzählt und optisch beeindruckend. Lesenswert!
rART/K2M
Literaturhinweis:
Jennifer Daniel, Das Gutachten, Einband, vierfarbig, 200 Seiten. 1. Auflage 2022, Carlsen Verlag. ISBN 978-3-551-78170-3, Ladenpreis EUR 25,00