Archiv 2020
KÖLNER BILDATLAS
Ein Sehnsuchtsbuch
Theater, Kinos, Kneipen, Museen und Musikhäuser geschlossen, fast alles Kulturelle – unverständlicherweise von der Politik als Freizeitspaß katalogisiert – abgesagt. Normal ist nichts in Zeiten von Corona. Nöte und Krisen beherrschen das öffentliche und soziale Leben. Da ist Ablenkung dringend nötig!
Bunte Reisegesellschaft. Ein „Oberländer“, ein Schiffstyp des Mittelrheins, hat in Köln festgemacht. Zeichnung aus den Memoiren, biografischen Notizen und Gedichten des Schriftstellers Hieronymus Köler der Ältere, nach 1538. Bildquelle © akg-images/ British Library. Foto © Greven Verlag Köln 2020 |
Die gibt´s nicht nur – mehr oder weniger attraktiv – im Hörfunk, im öffentlich-rechtlichen TV, im Bezahlfernsehen und sonst wo.
Buchcover. Die Illustration (Ausschnitt) zeigt die Anlegestelle am Bayenturm um 1830, dahinter Dom (mit Kran) und Groß St. Martin. Lithografie, Samuel Prout. Foto © Greven Verlag Köln 2020
Grabkammer (2. bis 4. Jh. n.Chr,) in Köln-Weiden an der ehemaligen Via Belgica nach Tongeren. Der aus Carrara-Marmor gefertigte Sarkophag mit Reliefs wurde 1966 an der Aachener Straße Nr. 1328 gefunden. Foto Reinhard Matz. Foto © Greven Verlag Köln 2020
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Es wird auch ganz eindeutig von den Menschen verstärkt zu Büchern gegriffen! Denn Lesen kann in Zeiten des kulturellen Ausnahmezustands vor Depression schützen, ist darüber hinaus ein Genuss und so was wie das "Zähneputzen für den Geist".*
Da darf es ein aktueller Belletristik-Spitzenreiter sein, auch ein Klassiker mit Bezug zur Pandemie (mehr). Oder etwas zum Bild-Text-Schmöckern, wie der jetzt erschienene Bildatlas „Köln von Anfang an“ aus dem Kölner Greven Verlag.
Rund 400 Seiten stark, mit einer brillanten Auswahl von ebenso vielen, oft noch unveröffentlichten, Bildern, wiegt das Opus rund drei Kilogramm und erfordert eine stabile Leseunterlagen.
Aber vorab: Dieser Bildatlas ist ein begeisternder visueller Quell der Stadtgeschichte. 2000 Jahre Kölner Historie werden hier ausgebreitet. Von der Frühgeschichte mit den ersten menschlichen Zeugnissen in der Kölner Bucht über Römer, Mittelalter bis in die Preußenzeit, in der das „Hillije Kölle“ mit seinen romanischen Kirchen (mehr) rasant in eine moderne Großstadt verwandelt wurde. Und dies wohlgemerkt ohne Köln-Tümelei, in durchaus humorvoller, klarer, sachlicher Sprache.
Acht Epochen umfasst die Zeitreise, die letztlich im Kaiserreich und mit dem Weiterbau der Kathedrale endet. Einer Zeit also, in der Köln seine Mauern sprengte und über sich hinauswuchs (mehr).
Gesellschaftlicher Wandel und Städtebau werden mit Bilddokumenten und, was besonders interessant wirkt, zeitgenössischen Texten erfahrbar. Da werden nicht nur Tacitus´ wenig schmeichelhafte Erkenntnisse über die Germanen am Rhein zitiert. Auch Francesco Petrarca, sein Landsmann Giacomo Casanova, Victor Hugo, Eugène Delacroix oder die Romanschriftstellerin Johanna Schopenhauer berichten von ihren Aufenthalten in der großen Stadt am Fluss.
Die Silhouette Kölns. Über einer fiktiven Stadt im Vordergrund ist Köln in einer ungewöhnlichen Perspektive aus Westen zu erkennen. Ausschnitt eines Gemäldes vom Meister der Verherrlichung Mariae (Notname), Öl auf Leinwand, ca. 28 cm Breite, um 1486. Foto Reinhard Matz. Foto © Greven Verlag Köln 2020 |
Italiens großer Dichter Petrarca kam 1333 nach „Cöln“ und stellte überrascht fest: „Erstaunlich diese Gesittung im Barbarenlande, die Schönheit der Stadt, die gesetzte Haltung der Männer, das schmucke Benehmen der Frauen!“ Casanova interessierte sich für anderes, hatte er doch hier 1760 eine pikante Liebschaft mit einer Dame von Stand, der Ehefrau eines der sechs städtischen Bürgermeister.
1838 bereist Victor Hugo das Rheinland und Köln. „Betrachtet man die Stadt selbst, so lebt und pulst alles darin. Die [Schiff-]Brücke wankt unter Fußgängern und Wagen, der Strom ist voll von Segeln, die Ufer von Masten…“ Die Dombesichtigung hingegen sei beklagenswert. Der Sakristan zeige „alle Ciborien, Messgewänder“ und „irgendein heiliges Gerippe, angetan wie ein Troubadour“. Das hätte achtmal Trinkgeld gekostet! Entschieden zuviel, wie der Dichter und politische Publizist befand.
Der Südturm des Doms in nostalgischer Ansicht. Ölgemälde von Cornelius Springer. 100 x 80 cm, 1855. Bildquelle Sammlung Irene und Sigurd Greven. Foto © Greven Verlag Köln 2020
Architekturzeichnung des Rathauses. Die lebendige Szene zeichnete um 1850 der Wiener Architekt Eduard van der Nüll, ein Meister des Historismus der Ringstraßenzeit (mehr). 26 x 37,2 cm. Bildquelle Sammlung Irene und Sigurd Greven. Foto © Greven Verlag Köln 2020
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Einer der letzten großen Klassikmaler, Eugène Delacroix, der 1830 das weltberühmte Pariser Revolutionsbild „Freiheit für das Volk“ mit der Nationalfigur der „Marianne“ fertigte, kritisierte 20 Jahre später in Köln den Baufortschritt der Kathedrale: „…die paar armen Teufel, die man in den Baracken an Steinblöcken herumklopfen“ höre und sehe, kämen nicht voran. Was allerdings fertig sei, das sei „wunderbar“!
Hinter diesem prächtigen Bildatlas steckt eine Recherchearbeit von über zehn Jahren in deutschen Bibliotheken und Dokumentensammlungen. Das Autorengespann Reinhard Matz und Wolfgang Vollmer arbeitete ferner in Archiven in Los Angeles, London, Paris, Stockholm und Budapest.
Hieraus speist sich auch ein besonderer Reiz dieses Werkes, dass nämlich die zeitgenössischen Ansichten von außen über Kölns Leben, Kultur und Architektur bis zum Jahr 1880 präsentiert werden. Wobei der Dom eine eher untergeordnete Rolle spielt.
„Momentaufnahme“. Schwedische Truppen besetzten am 21.12.1632 Deutz, um das Herzogtum Berg und das Kurfürstentum Köln von spanischen Besatzern zu befreien. Dabei explodierte ein Pulvermagazin und sprengte auch die Kirche St. Urban in die Luft. Kupferstich von Matthäus Merian d.Ä., frühestens 1632. 24,2 x 33,8 cm. Bildquelle Sammlung Irene und Sigurd Greven. Foto © Greven Verlag Köln 2020 |
„Man hat den Eindruck, eine Stadtführung durch die Jahrhunderte zu bekommen, eine Stadtführung auf dem Sofa“, erklärte bei der Buchvorstellung die französische Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy. Die Fachfrau brachte es mit Blick auf die Corona-Pandemie auf den Punkt. „Köln von Anfang an“ sei ein „Sehnsuchtsbuch“, da es auch zeige, was derzeit nur noch sehr eingeschränkt möglich ist: Reisen, Theater, Feiern, Essensgelage – öffentliches gesellschaftliches Leben! „Es ist ein Buch, das uns hoffentlich über den Winter bringt“, so Savoy, „bevor wir dann im nächsten Jahr … all das wieder im richtigen Leben tun dürfen.“
Die Publikation, so die Historikerin Savoy, erschließe Kölns zentrale Rolle in einem Geflecht internationaler Metropolen. „Bezeichnenderweise liegt die Stadt auf halbem Wege zwischen Paris und Berlin.“ Ein Buch von Großstädtern für Großstädter, so ihr Fazit. Und: „Mit diesem Buch verstehen Sie Köln!“
cpw
► „Köln von Anfang an“ ist die Vorgeschichte, oder sozusagen der „Band Null“, zu der vom Greven Verlag herausgegebenen Erfolgstriologie „Köln vor dem Krieg“, „Köln und der Krieg“ und „Köln nach dem Krieg“, mit denen dasselbe Autorenteam die Geschicke der Stadt von 1880 bis 1990 dokumentiert hat. Aus keiner anderen deutschen Metropole, so betont der Verlag, sei eine vergleichbar eindrückliche und umfangreiche Zusammenschau bekannt.
Literaturhinweis: Reinhard Matz & Wolfgang Vollmer. Köln von Anfang an. Leben | Kultur| Stadt bis 1880. Leinenausgabe mit Schutzumschlag. 392 Seiten mit 402 farbigen Abbildungen. ISBN: 978-3774309234, 24 x 29 cm, 50 Euro
* Zitierhinweis: Verlegerin Felicitas von Lovenberg (Piper Verlag) über das Lesen in: Handelsblatt Nr. 236 vom 4./5. Dezember 2020 S.60