rheinische ART
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rheinische ART 10/2016

Archiv 2016

ANNELISE KRETSCHMER

Kaktusfrau und Kinder

 

Es ist, als hätte ein Füllhorn seinen Inhalt mit einem Schwung ausgegossen. Denn Fotografien aus den Zwanziger- und Dreißigerjahren und ihre Schöpfer haben Konjunktur. Fotografen und Fotografinnen jener zwei wirtschaftlich und politisch markanten Dekaden werden in Museen und Ausstellungshäusern neu gezeigt – aber vor allem: neu entdeckt!

 

Annelise Kretschmer Nina, 1934, Vintage, Silbergelatine-Abzug © Christiane von Königslöw

 

Eine weitere dieser bemerkenswerten Foto-Ausstellungen mit fast einhundert Jahre alten Lichtbildern zeigt das Kölner Käthe Kollwitz Museum. Die schwarz-weißen Kunstwerke aus der Dunkelkammer, rund neunzig werden ausgestellt, stammen von der gebürtigen Dortmunderin Annelise Kretschmer (1903-1987).


Die Portraitfotografin gehört ohne Zweifel zu den Pionieren des damals neuen Mediums Fotografie und vor allem der deutschen Portraitkunst. Orientiert an der „Neuen Sachlichkeit“, jedoch mit einem sehr eigenen ästhetischen Konzept, lichtete Annelise Kretschmer Künstler, Industrielle, Arbeiter, Bauern und immer wieder Kinder ab, deren Konterfeis zu den eindrucksvollsten Zeugnissen dieses Sujets zählen.

     Aber Kretschmer erging es wie zahlreichen ihrer Künstlerkolleginnen. Ihre Œuvres wurden lange übergangen, verloren sich in den Kriegsjahren oder gingen danach unter, Restbestände wurden verlegt, verstaubten oder wurden schlichtweg vergessen.

 

Annelise Kretschmer Ellice Illiard, Sängerin, um 1931, Vintage, Silbergelatine-Abzug, © Christiane von Königslöw

 

Beruf: Fotografin  Dabei hatte Annelise Kretschmer, geborene Silberbach, in den späten Jahren der Weimarer Republik bereits einen Namen. Sie studierte bis 1922 an der Münchener Kunstgewerbeschule und absolvierte ein zweijähriges Volontariat in einem Essener Fotoatelier. 1924 wechselte sie für ein Berufspraktikum nach Dresden zu dem Portraitisten Franz Fiedler, einem Schüler des Theaterfotografen Hugo Erfurth, wurde seine Meisterschülerin und experimentierte dort mit eigenen Arbeiten.

 

Annelise Kretschmer Treppe zum Sacré Cœur, Paris, 1928, Vintage, Silbergelatine-Abzug, © Christiane von Königslöw

 

Annelise Kretschmer Portrait einer jungen Frau (Kaktusfrau) 1929, Reproduktion, © Christiane von Königslöw

 

Paris 1928 hielt sie sich mehrere Wochen in Paris, dem Zentrum der damaligen Avantgarde-Fotografie auf, und schuf impressionistische Bilder mit ungewöhnlichen Motiven, die sie abseits der lebendigen Großstadt-Boulevards fand. Als eine der ersten Frauen in der Weimarer Republik eröffnete sie danach in Dortmund ein eigenes Fotoatelier.


Im Sinne ihres Lehrers Fiedler vertrat Kretschmer die Auffassung, dass sich die moderne Atelierfotografie nicht an den strengen formalen Maßgaben der traditionellen Bildnisfotografie auszurichten habe.

     In einem Interview 1982 betonte sie, die Schwierigkeit bei der Portraitfotografie sei, „den Menschen zu einer Selbstdarstellung zu bewegen, in der seine wesentlichen Charakterzüge zum Ausdruck kommen“. Ihre Methode: Sie überließ es den zu Portraitierenden, wie sie sich vor der Kamera kleideten, bewegten oder posierten. Die Abbilder sollten möglichst authentisch und natürlich wirken. Auf Requisiten und eigene Inszenierungen verzichtete sie.

     Ihre Fotografien waren gefragt und wurden in Fachjournalen und illustrierten Zeitschriften veröffentlicht. Der Deutsche Werkbund (mehr) stellte die Berufsfotografin schon 1929 auf der Stuttgarter Ausstellung „Film und Foto“ aus. Einige ihrer Arbeiten wurden ein Jahr später auf der internationalen Fotoschau „Das Lichtbild“ in München gezeigt.

 

Annelise Kretschmer Sigmund Kretschmer, 1927, Vintage, Silbergelatine-Abzug, © Christiane von Königslöw

 

Das Karriereende der Künstlerin trat fast schlagartig mit der nationalsozialistischen Machtergreifung und dem damit einher gehenden Kulturkahlschlag ein.

     1933 wurde sie als Mitglied von der „Gesellschaft Deutscher Lichtbildner“ wegen ihres Status als „Halbjüdin“ ausgeschlossen. Weitgehend unbehelligt, aber unter schweren Bedingungen, führte die Foto-Pionierin ihre Arbeit bis Kriegsende teils in Süddeutschland fort.

     Ihr Mann, der Bildhauer Sigmund Kretschmer, zog mit den vier Kindern vorübergehend in das Künstlerdorf Worpswede (mehr). Nach dem Krieg arbeitete Annelise Kretschmer bis zu ihrem Tod weiterhin als Portraitfotografin. Ihre Bedeutung als eine der frühen führenden Lichtbildnerinnen, deren Arbeiten Fachleute mit denen so herausragender Fotokünstlerinnen wie der deutschen Dokumentarfotografin Gerda Taro (1910-1937) oder der Künstlerportraitistin Lotte Jacobi (1896-1990) (mehr) vergleichen, wurde erst in den Neunzigern öffentlich gewürdigt. So etwa in der Ausstellung „Fotografinnen der Weimarer Republik“, die 1995 das Museum Folkwang in Essen ausrichtete.


Die Schau
im Käthe Kollwitz Museum Köln reiht sich damit ein in eine Parade von Fotoausstellungen in der letzten Zeit, die fast vergessene Künstler hinter der Kamera thematisierten. Erinnert sei hier an den ebenfalls aus Dortmund stammenden Fotografen und Reporter Erich Grisar (mehr) oder an den Düsseldorfer Fotojournalisten Hans Berben (mehr). Annelise Kretschmers Kunst, so die Süddeutsche Zeitung, könne man erst jetzt, „aus dem Abstand fast eines Jahrhunderts“, in eine Reihe stellen mit „berühmten Kollegen wie Diane Arbus oder Walker Evans“ (mehr).

rART/cpw

 

Die Ausstellung "Annelise Kretschmer. Entdeckungen. Photographien 1922-1975"  ist bis zum 27. November 2016 zu sehen.
Käthe Kollwitz Museum
Neumarkt 18-24
50667 Köln
Tel 0221 – 2272 899
Öffnungszeiten
DI – FR 10 – 18 Uhr
SA, SO 11 – 18 Uhr

 

 Das Interview-Zitat stammt aus: Eskildsen, Ute: Interview mit Annelise Kretschmer (1982), in: Ruelfs, Esther: Annelise Kretschmer, Fotografien 1927-1937, Göttingen 2003.


► Das Zeitungszitat stammt aus: „Verblasst nicht“ von Catrin Lorch, Süddeutsche Zeitung Nr. 198, Samstag/Sonntag 27./28. August 2016 S. 17

 

 

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