Archiv 2023
1920ER
Bugatti & Bubikopf
Mit einem regelrechten Kultur-Kaleidoskop feiert die Bonner Bundeskunsthalle jenes Jahrzehnt, dass wie kaum ein anderes vom Nachruhm verklärt wurde. Es ist eine Schau, die streckenweise auch das Auge des Betrachters verwöhnt!
Im Sportfieber - Eyecatcher im Ausstellungseingang Rennwagen Bugatti Typ 35 C. 1927–1930. Das Fahrzeug wurde im Rennsport zum Maß aller Dinge. Zwischen 1928 und 1933 gingen zahlreiche Privatleute mit Bugattis an den Start von Autorennen. Foto © rheinische ART Kulturmagazin 2023 |
Die „Goldenen Zwanziger“, wie sie auch gerne genannt werden, galten als eine hochkreative, experimentierfreudige und glanzvolle Zeit für Kunst und Kultur – jedoch nur für eine kleine wohlhabende Bevölkerungsschicht, abgespalten vom Rest der Gesellschaft. Trotz dieser gesellschaftlichen Zerrissenheit gab es einen nie dagewesenen Innovationsschub und einen ungebrochenen Glauben an den Fortschritt.
Grossstadt Rhythmus - Lotte B. Prechner Die Jazztänzerin 1929, Öl und Tempera auf Holz, Bonn, VLR-LandesMuseum Bonn © Foto: Jürgen Vogel, LVR-LandesMuseum Bonn.
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Dies spiegelt die Bonner Schau mit dem Titel „1920er! Im Kaleidoskop der Moderne“ und es gelingt ihr, in einer Disziplinen übergreifend angelegten Präsentation diese zehn Jahre realistisch und umfassend zu reflektieren.
Es ist keine einseitig konstruierte, überwiegend „auf die wilden verrückten“ Goldenen Zwanziger konzentrierte Schau.
Kuratorin Agnieszka Lulinska stellte klar, welches Ziel die Ausstellung verfolgt. Wenn man an die 1920er Jahre dächte, kämen sofort Bilder hoch wie jene, die in der großen Fernsehserie "Babylon Berlin“, ausgiebig zu sehen waren. Eine Stadt als Sumpf aus Drogen, Kriminalität, Korruption, Kunst und Extremismus.
Lulinska: „Das interessiert uns nur am Rande. Wir versuchen, in die Breite zu gehen." Das ist den Bonner Kuratoren gelungen, das zeichnet die kurzweilige Schau aus und macht sie so wertvoll und interessant.
Mensch - Maschine Blick in die Ausstellung, Walter Schulze-Mittendorff, Nachbau (1972) des Maschinenmenschen aus Fritz Langs Film Metropolis von 1927, Foto: Simon Vogel, 2023 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH |
In den drei elementaren Themenbereichen, die die Bundeskunsthalle durchleuchtet, geht es zu Beginn um das Phänomen Großstadt als Biotop und Zerrbild der Moderne, also um Verstädterung, multikulturelle Avantgarden, Metropolen, urbane Architekturen und Utopien und um realisierte Wolkenkratzer.
Im Themenblock zwei sind es die Menschenbilder, die im Fokus stehen, um die sich wandelnden Rollen von Frauen und Männern in der Gesellschaft und in der Familie. Letztlich zeigt Thema drei die Konstruktion und Wahrnehmung der neuen Lebenswelten und widmet sich Fragen der industriellen Revolution, der Mechanisierung, neuer industrieller Ästhetik und Design, dem Drogenkonsum (auch in der Malerei!) sowie dem Verhältnis Mensch und Maschine, ferner den neuen Medien und der Massenkommunikation mittels Radio und einer überbordenden Bildfülle bei der illustrierten Presse.
Menschenbilder - Tamara de Lempicka Frau im blauen Kleid 1933 Aquatinta Mr. Marek Roefler © VG Bild-Kunst, Bonn 2023, Foto: Villa La Fleur
Menschenbilder - Karl Hofer Tiller-Girls 1927 Öl auf Leinwand Kunsthalle Emden © VG Bild-Kunst, Bonn 2023, Foto: bpk / Kunsthalle Emden / Martinus Ekkenga
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Sehr deutlich werden die Veränderungen, die in der Umbruchphase des Zwischenkriegsjahrzehnts Raum griffen, in den geänderten Rollen der Frau.
Die „Neue Frau“ raucht und trinkt, schmückt sich mit dem letzten Frisur-Modeschrei aus Paris, dem importierten Kurzhaarschnitt „Bubikopf“, steigt in Hosen und Anzüge, auch in Overalls für´s Cockpit von Autos – gerne auch in Rennwagen der Marke Bugatti – und Flugzeugen.
Frauen gehen auf große Reise, etwa in die neu entstandenen Nationalstaaten im territorialen Flickenteppich Europas. Und sie arbeiten künstlerisch höchst erfolgreich.
Die skandalumwitterte, glamouröse Diva und Dame Tamara de Lempicka verstand es wie keine andere, den neuen, schnell und exzessiv lebenden Frauentypus in ihren Gemälden zu verewigen. Denn sie war selbst, wenn man so will, der Prototyp einer sinnlichen, kühl-erotischen Lifestyl-Persönlichkeit jener Zeit (mehr).
Die Frauen der 1920er Jahre provozierten die Männerwelt vielfältig, auch im Sport. Etwa in der Männerdomäne Boxen. Galt doch der Boxer als „der“ Sportler der Moderne schlechthin: einsam, dynamisch, kämpferisch und reaktionsschnell. Das gab es auch in femininer Form als „Damenboxen“.
1923 gingen in Berlin bereits Berufsboxerinnen in den Ring, deren Auftritte zwischen Wettkampf und Volksbelustigung changierten und die auf Kritik stießen: „Mit dem Begriff der Frau war noch immer in unserem Bewusstsein auch der Begriff des Zarten, Gütigen, Vermittelnden verbunden.“ Nun sei es anders geworden, kommentierte die Zeitschrift „Das interessante Blatt“ 1921 einen „scharfen Damen-Boxkampf“ zwischen den Akteurinnen „Fräulein Pepi Fischer (Deutschland)“ und „Fräulein Franzi Beyer (Österreich)“.
Der Sport war schließlich nur die eine Disziplin, in der ein neuer Wind wehte. Es war die Neue Frau, die als Hauptadressatin von Auto- und Zigarettenwerbung angesprochen wurde, die Mode- und Kosemtikbranche entdeckte die lebenshungrigen Working Girls als unersättliche Konsumentinnen, die Vergnügungsindustrie profitierte von der femininen Lust auf Freiheit und Abenteuer.
Metropolen - Fortunato Depero The New Babel 1930 Tempera auf Karton © VG Bild-Kunst, Bonn 2023, Foto: MART - Archivio fotografico e Mediateca |
Im Mittelpunkt der Betrachtung steht im Bonner Schauhaus natürlich nicht nur die Neue Frau. Für das Haus galt es, herauszuarbeiten und darzustellen, was die 1920er Jahre waren: Eine Welt, die „von Beginn an… im Rausch des kollektiven Aufbruchs“ stand, eine Welt, „der ein einheitliches Koordinatensystem abhanden gekommen war.“
Stadt der Moderne - Frans Masereel La ville (Die Stadt) 1925 Holzschnitt auf Papier, Klingspor Museum © VG Bild-Kunst, Bonn 2023
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Dass der Erste Weltkrieg, diese vier bedrückend grauen und politisch so verheerenden Jahre, der Auslöser für den Verlust von bewährten Positionen war und zum Motor für die Radikalität der neuen Nachkriegsepoche wurde, wer möchte daran zweifeln?
Es ist eine sehenswerte und kurzweilige Ausstellung, die mit manchem Klischee der berühmten 1920er aufräumt.
Die Bundeskunsthalle hat auch mit dieser Exposition eine glückliche Hand bewiesen. Es sei daran erinnert, dass das Haus vor acht Jahren die sensationelle wie tiefgründige Ausstellung „1914. Die Avantgarden im Kampf“, präsentierte (mehr).
Der aktuelle, so treffend als Kaleidoskop betitelte Rundumblick auf die Zwanziger vor hundert Jahren, ermöglicht bemerkenswerte Einsichten in die Einzigartigkeit der Moderne jenes Jahrzehnts und schärft darüber hinaus eine Sicht auf Analogien zum Heute - und es zeigt sich eine "verblüffende Aktualität".
Ohne Übertreibung kann festgehalten werden: Die Schau steht der großen „Avantgarden im Kampf“-Präsentation des Jahre 2014 in keiner Weise nach. Eher ist sie eine kongeniale Ergänzung. Überaus sehenswert!
rART/ cpw
► Die Begleitpublikation (Katalog) folgt der Ausstellungsstruktur und bietet gleichzeitig ein polyphones Zeitpanorama, in dem Kunst und Fortografie, Bild und Text in einen Dialog treten. Broschur, 264 Seiten ca. 350 Abbildungen. Museumsausgabe 35 €.
Die Ausstellung 1920er. Im Kaleidoskop der Moderne wird bis zum 30. Juli 2023 gezeigt.
Kunst- und Ausstellungshalle
der Bundesrepublik Deutschland GmbH
Museumsmeile Bonn
Helmut-Kohl-Allee 4
53113 Bonn
Tel. 0228 / 9171–0
Öffnungszeiten
DI + MI 10 – 21 Uhr
DO - SO 10 – 19 Uhr
Zitat aus: Österreichische Wochenzeitung „Das interessante Blatt“, 23. Juni 1921, Seite 4.
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